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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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schaffen würde, und hätte es ohne die Karte wahrscheinlich nicht geschafft. Ich hatte das Gefühl, ewig durch die Dunkelheit zu stolpern. Drei Stunden später erreichte ich den Kamm und das neue Lager. Es war gegen fünf Uhr morgens und es schüttete immer noch. Alle schliefen. Niemand hatte bemerkt, dass ich weg war. Ich rollte meine Isomatte aus, legte sie in eines der anderen Zelte und klappte zusammen. Als ich aufwachte, hatten die Betreuer schon durchgezählt. Orlando war verschwunden. Am Nachmittag riefen sie die Nationalgarde. Es war Traumwetter. Ein wunderschöner, hellblauer Himmel.«
    Er beugte sich vor, atmete stockend ein und blickte auf den Boden.
    »Sie haben ihn siebzehn Kilometer entfernt ertrunken in einem Fluss gefunden. Alle dachten, es war ein Unfall, dass er sich im Durcheinander verlaufen hatte. Aber ich kannte die Wahrheit. Es war wegen dem, was ich gesagt hatte. Er hatte den Fluss gesehen und sich hineingestürzt. Ich war’s. Ich habe diesen Jungen umgebracht, der nichts gemacht hatte, außer er selbst zu sein. Mit ihm war alles in Ordnung. Ich war es. Ich war der Verlierer. Ich war das verschwendete Leben. Ich war der, den niemand liebte. Und den nie jemand lieben würde. Ashley hatte Orlando gerettet«, flüsterte er. »Und ich hab’ ihn zerstört.«
    Er schloss die Augen. Es schien ihm Schmerzen zu bereiten, dies auszusprechen, als würden die Worte ihm ins Fleisch schneiden. Nach einem Augenblick zwang er sich aufzusehen, seine Augen waren feucht und blutunterlaufen.
    »Sie brachten uns mit Hubschraubern zurück ins Ausgangslager«, fuhr er fort. »Die empörten Eltern reisten an. Die Betreuer wurden wegen Fahrlässigkeit angeklagt. Zwei mussten ins Gefängnis. Ein paar ihrer Disziplinarmethoden kamen ans Licht, und das Camp wurde ein Jahr später umbenannt in so was wie ›Twelve Gold Forests‹. Niemand wusste, dass ich mit dem Vorfall etwas zu tun hatte. Außer Ash. Sie hatte nichts gesagt. Das konnte ich an der Art erkennen, wie sie mich ansah. Wir beide waren die Letzten, die noch da waren. Ein schwarzer SUV holte sie ab, nicht ihre Eltern, sondern eine Fahrerin in einem Anzug. Bevor Ashley hinten einstieg, drehte sie sich zu mir um. Ich saß in einer der Hütten und beobachtete sie. Sie konnte mich unmöglich sehen, aber irgendwie tat sie es doch. Sie wusste alles.«
    Er schien dem Weinen nahe zu sein, aber das erlaubte er sich nicht. Wütend wischte er sich die Augen in der Armbeuge ab.
    »Man sollte von seinen Eltern abgeholt werden«, sagte er mit heiserer Stimme. »Mein Onkel hatte keine Zeit. Aber da war so ein Chaos, mit der Polizei, der Lokalpresse und Orlandos Familie, dass die Cops irgendwann zu mir meinten,
Du kannst gehen
. Ich konnte einfach loslaufen. Und das habe ich getan.«
    Ich hatte ihm so gebannt zugehört, dass ich kaum wahrgenommen hatte, wie Nora aufgesprungen war. Sie nahm den Karton mit Taschentüchern vom Bücherregal und reichte ihn lächelnd Hopper. Dann setzte sie sich wieder aufs Sofa.
    »An die nächsten fünf Monate kann ich mich kaum erinnern«, sagte er und putzte sich die Nase. »Die waren wie ein schwarzes Loch. Ich war per Anhalter unterwegs. Erst nach Oregon und dann rauf nach Kanada. Die meiste Zeit wusste ich gar nicht, wo ich war. Ich bin einfach weitergegangen. Ich habe Nächte in Motels verbracht, auf Parkplätzen, in Einkaufszentren. Ich habe Geld für Essen geklaut. Einmal habe ich Heroin gekauft und mich wochenlang in einem Motelzimmer eingeschlossen. Ich war wie betäubt und hoffte, ich würde das Ende der Welt finden und einfach davonschwimmen. Als ich Alaska erreichte, habe ich in dieser Stadt, Fitz Creek, in einem Markt ein Sixpack Pabst-Bier geklaut. Mir war nicht klar, dass in jedem Tante Emma-Laden in Alaska eine Knarre unter der Kasse liegt. Der Besitzer schoss fünf Zentimeter an meinem Ohr vorbei, direkt in das Regal mit den Kartoffelchips, dann richtete er den Lauf auf meinen Kopf. Ich bat ihn, einfach abzudrücken. Er würde mir einen Gefallen tun. Ich muss ihm eine Scheißangst eingejagt haben, als ich ihn so anstachelte, wie ein Wahnsinniger, denn er setzte das Gewehr ab und rief ziemlich verstört die Polizei. Einen Monat später war ich in Peterson Long, einem Militärinternat in Texas. Als ich ungefähr eine Woche da war, saß ich in der Bibliothek, daran kann ich mich erinnern – die Fenster waren mit Gitterstäben gesichert –, und überlegte, wie zur Hölle ich entkommen konnte, als ich plötzlich eine E-Mail

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