Die amerikanische Nacht
war sie. Ash ist nicht bloß
auf den Wellen
geritten und jeden Tag zu den singenden
Meerjungfrauen
hinabgetaucht. Sie war selbst eine Meerjungfrau. Spätestens als ich sie nach Hause brachte, war ich in sie verliebt. Mit Leib und Seele.«
Er gestand uns das ganz ruhig, ohne Scham oder Furcht. Ich merkte, dass er zum ersten Mal darüber sprach. Man spürte seiner unsicheren Stimme und den Worten, mit denen er sie beschrieb, an, dass sie seit Jahren in ihm versteckt gewesen waren; sie waren muffig und dunkelrot und zerbrechlich, sie lösten sich fast auf, sobald sie an der Luft waren.
»Du hast sie in die East 71 st Street gebracht?«, fragte ich.
Er sah mich an. »Wo wir gestern Abend waren.«
»
Deshalb
wusstest du, wie man da reinkommt«, flüsterte Nora erstaunt. »Du bist da schon einmal reingeklettert.«
»Nach der ersten Nacht, die wir zusammen verbracht hatten, waren ihre Eltern wütend, weil sie nicht nach Hause gekommen war. Sie waren ziemlich streng. Sie bestanden darauf, dass sie um ein Uhr nachts zu Hause war, sonst würden sie sie irgendwohin bringen, in ihr Haus in Upstate. Also habe ich Ash in der Woche jeden Abend um eins zu Hause abgeliefert und dann auf der anderen Straßenseite gewartet, wo wir gestern standen. Ungefähr um halb zwei kletterte Ash dann raus und wir brachen wieder auf, zu den Docks oder ins Carlyle oder in den Central Park. Um sechs Uhr morgens kletterte sie dann wieder ins Haus. Sie hatte die Kabel durchtrennt, so dass die Sensoren der Alarmanlage nicht funktionierten. Ihre Eltern haben das nie herausgefunden. Offensichtlich wissen sie’s immer noch nicht. Als ich das Haus gestern sah, war alles ganz genau wie damals. Ich hab’ fast damit gerechnet, dass Ash gleich herausgeklettert kommt.«
Er senkte den Blick auf den Fußboden und leerte den restlichen Scotch.
»Dann war die Woche vorbei«, fuhr er leise fort, »und ich musste zurück in die Schule. Als Erstes habe ich einen Brief an Orlandos Eltern geschrieben, um ihnen zu sagen, was passiert war. Sie hatte mir den Mut dazu gegeben, auch wenn sie kein Wort darüber verloren hat. Als ich den Brief eingeworfen hatte, fühlte es sich an, als hätte man eine Schlinge von meinem Hals gelöst. Es dauerte einige Wochen, bis sie zurückschrieben, aber als der Brief dann endlich da war – war ich beeindruckt. Sie beglückwünschten mich dafür, mich gemeldet und die Wahrheit gesagt zu haben. Sie baten mich, mir selbst zu verzeihen, und sagten, dass sie für mich beten würden und dass ich bei ihnen immer willkommen sei.«
Hopper war darüber noch immer verwundert und schüttelte den Kopf. »Die nächsten fünf Monate schrieben Ash und ich uns jeden Tag«, fuhr er fort. »Ende Mai hörte ich eine Woche lang nichts von ihr. Ich bin durchgedreht, hatte Angst, dass was passiert sei. Dann bekam ich einen Anruf. Es war Ash. Ich werde nie vergessen, wie sie klang. Sie war verzweifelt und heulte. Sie sagte, sie könne nicht mehr mit ihren Eltern zusammenleben und wollte irgendwohin, wo sie sie nicht finden würden. Sie fragte, ob ich mit ihr kommen würde. Und ich sagte – naja, ich sagte das beste Wort, das es gibt.«
»Ja«, flüsterte ich.
Er nickte. »Ich lieh mir von einem der Lehrer das Geld für die Tickets. 10 . Juni 2004 . 21 : 35 Uhr. United Airlines, Flug 7057 . Von JFK nach Rio de Janeiro. Weit im Süden von Santa Catarina gibt es eine Stadt, in der ich mal war. Florianópolis. Das Schönste, was ich je gesehen habe, nach
ihr
. Ein Kumpel von mir hat da am Strand eine Bar. Er sagte, wir könnten für ihn arbeiten, bis wir alles Weitere geplant hätten. Dann kamen die Sommerferien, und ich fuhr wieder mit den drei Greyhound-Bussen in die Stadt, um sie zu treffen. In dem Augenblick, in dem ich sie sah, wusste ich, es ist so weit. Wir würden alles hinter uns lassen. Die beste Nacht meines Lebens war die, in der wir uns die Tattoos haben machen lassen. Ich hatte von
Rising Dragon
gehört. Aber das Kirin war ihre Idee.«
»Hat Larry die gemacht?«, fragte Nora.
»Ja. Das war so ein Riesenkerl. Wir waren zu dritt in dem Laden. Das Motiv war ziemlich kompliziert. Eigentlich sollte man sich für so was einen Monat Zeit nehmen, um die Schmerzen besser auszuhalten. Aber unser Flug ging am nächsten Tag, also musste es in dieser Nacht passieren oder gar nicht. Als es vorbei war, schlang sie ihre Arme um mich und lachte, als hätte es überhaupt nicht weh getan. Sie sagte, bis morgen. Morgen würde alles beginnen.«
Hopper
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