Die amerikanische Nacht
Nora.
»Nichts«,
antwortete er knapp. »Sie hat mir einen Stoffaffen geschickt.«
Natürlich
, der
Affe
– dieses verblichene Stofftier mit den losen Nähten und der Kruste aus getrocknetem Schlamm. Den hatte ich fast schon vergessen.
»Wieso?«, fragte ich.
Er starrte mich an. »Der gehörte Orlando. Er schlief damit. Ich weiß nicht, wieso Ash ihn hatte oder wo sie ihn gefunden hat. Aber als ich ihn aus dem Umschlag holte, fühlte ich mich ganz krank.
Sie
war krank, mir den zu schicken, weil sie ja wusste, dass ich jeden Tag an den Jungen dachte, jeden Tag mit dem Schrecklichen leben musste, das ich getan hatte. Ich ging zu der Adresse, die sie als Absender auf den Umschlag geschrieben hatte, weil ich dachte, ich würde da einen Hinweis darauf finden, wieso sie das getan hatte.« Er sah mich an. »Da bin ich dann dir begegnet.«
»Kein Wunder, dass du mir nicht vertraut hast«, sagte ich.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, du arbeitest vielleicht für ihre Familie.«
»Woher wusstest du vom
Klavierhaus
?«, fragte Nora.
»Ich war einmal mit Ash da. Sie hat immer da geübt.«
Nora biss sich auf die Fingernägel und runzelte die Stirn. »Und du bist nicht mit uns zu
Rising Dragon
gegangen, weil …?«
»Ich hatte Angst, dass man mich erkennen könnte. Es ist schon lange her, aber … ich wollte das Risiko nicht eingehen. Oder daran erinnert werden.« Er starrte verbittert auf sein Tattoo. »Ich habe eine Zeitlang davon geträumt, mir den Fuß abzuhacken, um das Ding nicht mehr sehen zu müssen.«
»Warum hast du uns nichts erzählt?«, fragte ich. »Irgendwann musst du doch gemerkt haben, dass wir genauso wenig wussten wie du.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte. Die Ashley, die ich kannte, war ganz anders als diese Hexe, deren Spur wir verfolgen. Flüche auf dem Fußboden? Nyktophobie? Ashley hatte keine Angst vor der Dunkelheit. Sie hatte vor gar nichts Angst.«
»Vielleicht hat sie den Affen gar nicht geschickt«, schlug Nora vor.
»Das ist ihre Handschrift auf dem Umschlag.«
»Die könnte jemand aus ihrer Familie gefälscht haben. Vielleicht hatten sie Angst, dass sie dir etwas erzählt haben könnte, und wollten dich damit einschüchtern.«
»Ich zerbreche mir schon seit Wochen den Kopf. Ich versuche mich zu erinnern, ob sie mir
irgendetwas
gesagt hat. Aber ich habe nie jemanden aus ihrer Familie getroffen, und sie hat fast nie über sie gesprochen. Aber ich hatte das deutliche Gefühl, vor allem nach diesem einen Anruf, dass sie und ihr Vater nicht miteinander klarkamen.«
»Nichts über Hexerei?«, fragte ich.
Er sah mich verwundert an. »Zu denken, dass Ashley mit so was zu tun hatte, ist
verrückt
.«
»Und warum hat man sie ins Six Silver Lakes-Camp geschickt?«
»Sie hat mir erzählt, dass sie die Beherrschung verloren und sich mit einer Kerze verbrannt hat. Sie hatte eine Brandnarbe an der linken Hand. Mehr war da nicht.«
»Und was war, als du gestern Abend in ihrem Haus warst?«
Er starrte mich an, bevor er antwortete. Ihm war sichtlich unwohl bei dem Gedanken daran. »Es war noch genau
so
. Als hätte es niemand betreten, seit ich vor sieben Jahren dort eingebrochen war. Dieselben Betttücher, die man schnell über die Möbel geworfen hatte. Dieselben Chopin-Noten auf Ashleys offen stehendem Flügel. Dieselben aufgerollten Teppiche, dieselben Stapel von Büchern auf den Tischen, dieselben Gläser auf dem Kaminsims. Nur lag jetzt auf allem eine zentimeterdicke Staubschicht. Und es roch verschimmelt, wie in einer Gruft. Ich war auf dem Weg in Ashleys Zimmer, um zu sehen, ob sie noch mal da gewesen war. Ich rechnete wirklich damit, ihren gepackten Koffer immer noch im Schrank versteckt zu finden, wo ich ihn zurückgelassen hatte. Aber dann klingelte es an der Tür und ich musste umdrehen. Ich war fast am Fenster, als das Licht anging und eine Frau mir befahl, die Hände hochzunehmen. Sie hatte ein Scheiß-Jagdgewehr im Anschlag.«
»Inez Gallo«, sagte ich. »Hattest du sie vorher schon einmal gesehen?«
Er legte die Stirn in Falten. »Für einen Augenblick dachte ich, sie sei die Fahrerin, die Ashley im Six Silver Lakes-Camp abgeholt hat. Aber ich bin mir nicht sicher.«
»Ashley ist wegen des Fotos von euch beiden zu
Rising Dragon
gegangen«, sagte Nora. »Sie wollte es haben, aber es ist weg.«
Er sah sie an. »Stimmt nicht.« Langsam griff er sich in die Hosentasche, zog sein Portemonnaie heraus und holte ein Stück Papier
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