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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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aus dem Geldscheinfach.
    Er reichte es mir.
    Es war ein Foto, zerknittert und abgegriffen. Es war schon tausendmal herausgeholt und angesehen worden.
    Selbst jetzt, nach allem, was er uns erzählt hatte, war es erstaunlich, sie zusammen zu sehen, als seien zwei Menschen aus verschiedenen Welten aufeinandergestoßen. Sie saßen Händchen haltend auf einem Stuhl. Es war ein eingefangener Moment der Jugend, der Freude – ein Moment, der so befreit war, dass nicht einmal die Kamera ihn festhalten konnte. Das Foto zeigte die beiden verwischt und unscharf, was andeutete, dass sie so neu und leicht waren, dass es keine Worte gab, um sie zu beschreiben, ihre Knöchel bildeten diese kämpfende, brennende Kreatur, die in den Tod oder ins Leben sprang.

80
    Ich gab Hopper ein Kopfkissen und eine Decke, damit er auf dem Sofa übernachten konnte. Es regnete immer noch und er schien nicht nach Hause zu wollen.
    Nora sagte schläfrig gute Nacht und verschwand in Sams Zimmer.
    Ich ging auch ins Bett. Ich war geistig und körperlich ausgelaugt. Doch bevor ich das Licht ausschaltete, suchte ich noch nach
Six Silver Lakes-Camp
auf meinem BlackBerry, nur um die Details von Hoppers Geschichte nachzuprüfen. Es gab eine ganze Reihe von Artikeln über den Unfall, der im Juli 2003 passiert war. Viele der Zeitungsartikel von damals waren gescannt und auf einer Webseite namens Neverforget.com veröffentlicht worden.
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    Ich las auch die anderen Artikel. Jeder einzelne bestätigte, was Hopper uns erzählt hatte.
    Also hatte er sie geliebt. Natürlich, das hatte ich ja bereits gewusst.
    Ashley.
    Wie schwer fassbar sie war, wie sie ihre Gestalt änderte, sie schien aus so vielen konkurrierenden Kreaturen zu bestehen wie das Tattoo. Der Kopf eines Drachen, der Körper eines Hirsches.
Die Neigungen einer Hexe.
Sie war Orlandos Taschenlampe hinter uns im Dunkeln, ein leuchtender Nadelstich im heftigen Regen, sie verfolgte Hopper und sie verfolgte mich. Sie war ein Leuchtsignal, dessen Herkunft und Ziele rätselhaft blieben, es war unmöglich zu sagen, ob sie sich auf mich zu oder von mir weg bewegte. Bestand überhaupt ein Unterschied zwischen etwas, das einen verfolgte, und etwas, das einen irgendwohin führte?
    Ich löschte das Licht und schloss die Augen.
    Traue ich mich?
    Ich schreckte auf, mein Herz pochte. Das Schlafzimmer war dunkel, leer, und doch hatte ich das eindeutige Gefühl, dass mir gerade jemand diese Worte ins Ohr geflüstert hatte.
    Ich griff nach meinem Telefon und googelte
Prufrock
. Mit trüben Augen las ich das Gedicht.
    Es war so wehmütig und traurig, wie ich es aus dem College in Erinnerung hatte – vielleicht noch mehr, weil ich nun kein arroganter neunzehnjähriger Mann mehr war und weil die Zeilen über die Zeit und
Ich werde alt … ich werde alt …
jetzt tatsächlich etwas bedeuteten. Der Erzähler des Gedichts, Prufrock, war eine Art Insektenpräparat. Er wand sich noch, war aber schon aufgespießt an seinem langweiligen kleinen Leben, einer Welt endloser gesellschaftlicher Anlässe und Partys und dummer Beobachtungen; das moderne Äquivalent wäre wahrscheinlich der Mensch, der allein mit seinen Telefonen und Bildschirmen ist, Tweets und Freundschaftsanfragen und Statusupdates verschickt, das endlose Geschnatter der Internetkultur. Die Gedanken des Mannes wechselten hin und her, zwischen Resignation, dem wahnhaften Glauben, noch genügend Zeit zu haben, und einem tiefen Verlangen nach
mehr
, nach Mord und nach Schöpfung.
    Die gesamte Familie richtete ihr Leben als Antwort auf diese Frage aus
, hatte Hopper gesagt.
    Wenn das stimmte, war es ohne Zweifel eine extreme, berauschende Art zu leben. Es bestätigte sogar den fast mystischen Nachmittag, den mir Peg Martin am Hundeauslaufplatz beschrieben hatte, und einige der Geschichten über die junge Ashley. Aber es konnte genauso eine Versklavung bedeuten, eine
Hölle
, immerzu nach dem Verwunschenen zu suchen, immer wieder hinabzutauchen in die einsamen Meergewölbe. Um Meerjungfrauen zu suchen.
    Es war tragisch, wie die Suche nach dem Garten Eden.
    Ich löschte das Licht und schloss die Augen. Meine Arme und Beine waren so schwer, dass sie mit dem Bett zu verschmelzen schienen. Mein Verstand ließ allen Gedanken ihren Lauf, so dass sie durch die Luft flogen, frei und ungeordnet.
    Sie hat einen Gast angegriffen. Er wird die Spinne genannt. Ein Wissen um die Dunkelheit in ihrer extremsten Form. Du hast keine Achtung vor dem

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