Die amerikanische Nacht
atmete tief durch, verschränkte die Finger und sah an uns vorbei aus dem Fenster, wo der Regen immer noch gegen die Scheibe peitschte. Er schien plötzlich ganz weit weg zu sein, verloren in diesem bodenlosen Spalt der Vergangenheit, aus dem er sich nicht befreien konnte. Vielleicht erinnerte er sich auch an ein Detail, das er uns nicht verraten wollte, an Worte, die sie gesagt oder etwas, das sie getan hatte, und das für immer ihr Geheimnis bleiben würde.
Als er uns wieder ansah, schien er nicht weiterreden zu wollen.
»Stört es dich, wenn ich rauche?«, fragte er ruhig.
Ich schüttelte den Kopf. Er stand auf, um die Zigaretten aus seiner Manteltasche zu holen. Ich sah zu Nora hinüber. Sie war so gebannt, dass sie sich seit fünfzehn Minuten nicht mehr gerührt hatte. Den Ellbogen hatte sie auf die Lehne gestützt, das Kinn lag in ihrer Hand.
Hopper setzte sich wieder, klopfte eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an. Er schwieg, sein Gesicht war düster und nachdenklich, Zigarettenrauch hing in der Leere um ihn herum.
»Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe«, sagte er.
79
»Am nächsten Tag sollten wir aufbrechen«, fuhr er fort. »Am 10 . Juni. Ash sollte mich um 18 : 00 Uhr in
Neil’s Coffee Shop
treffen. Das ist ein Diner in der Lex Avenue, einen Block von ihrem Haus entfernt. Dann wollten wir zusammen zum JFK . Es wurde sechs. Von ihr kam keine Nachricht. Bald war es sieben. Dann
acht
. Ich probierte es auf ihrem Handy. Sie ging nicht ran. Ich ging zu ihr nach Hause und klingelte. Normalerweise brannte dort Licht. Jetzt war es dunkel. Ich klopfte. Niemand öffnete die Tür. Ich kletterte hoch, genau wie Ashley es getan hatte, über das Eisengitter auf den Balkon im ersten Stock und dann durchs Fenster ganz rechts rein. Das Haus war luxuriös, ein Palast, aber alles war gepackt. Und zwar
in Eile
. Als hätten ein paar Verbrecher beschlossen, sich aus dem Staub zu machen. Über die Möbel hatte man Bettbezüge geworfen, aber nur notdürftig, denn sie hingen halb auf dem Boden. Die Betten waren abgezogen. Milch und Obst und Brot lagen draußen in Mülltüten auf dem Gehsteig. Ashs Zimmer war im zweiten Stock. Da waren noch ein paar Fotos und Bücher, aber einen Großteil ihrer Sachen hatte man ausgeräumt und ganz schnell in Säcke geworfen. Die Lampe auf dem Nachttisch war umgeworfen. Aber in ihrem Wandschrank lag ganz oben, unter Decken versteckt, ein kleiner Lederkoffer. Ich holte ihn herunter und öffnete ihn. Ihre Klamotten waren darin, Sommerkleider, T-Shirts, Bargeld, Noten und ein
Lonely Planet
-Reiseführer für Brasilien. Sie hatte also vor zu kommen. Von da an wusste ich, dass ihre Eltern es herausgefunden und sie weggebracht hatten, wahrscheinlich auf dieses Anwesen, wo sie ihr ganzes Leben Hausunterricht erhalten hatte.«
Er hielt inne und drehte unruhig das Ende der Zigarette zwischen den Fingern.
»Ich war bereit, zur Polizei zu gehen, aber dann meldete sie sich. Per
E-Mail
. Es tue ihr
leid
, aber sie habe einen Fehler gemacht. Wir seien bloß zwei Jugendliche, die sich in etwas verrannt hätten. Sie wolle an niemanden gebunden sein. Sie sagte, die Zeit mit mir sei toll gewesen, aber jetzt sei es vorbei, ganz einfach. Sie sagte, ich solle weiter
auf den Wellen
auf’s Meer hinausreiten und nach den beschissenen
Meergewölben
suchen, wo die
Meerjungfrauen sangen
…«
Gereizt brach er ab und nahm einen tiefen Zug von der Zigarette.
»Ich war mir sicher, dass ihre Eltern sie dazu gebracht hatten«, sagte er und pustete den Qualm in den Raum. »Ich schrieb zurück, dass ich ihr nicht glaubte. Ich würde sie finden, dann sollte sie mir das ins Gesicht sagen. Sie bat mich, keinen Kontakt zu ihr aufzunehmen. Ich schrieb
wieder
zurück. Wenn sie wirklich
meine Ashley
war, wie war dann die Adresse des Hauses, vor dem wir in der ersten Nacht gesessen hatten, als die Sonne über den Häusern aufging? Sie schrieb sofort zurück, Sekunden später.
131 East 19 th. Und ich bin niemandes Ashley
, schrieb sie. Das war wie ein Stich ins Herz. Ein Jahr später fand ich heraus, dass sie in Amherst studierte. Ihr ging’s also gut. Es war ihre eigene Entscheidung gewesen.«
Er strich sich das Haar aus dem Gesicht und lehnte sich im Sessel zurück. Er wirkte ganz ruhig, sogar ein wenig betäubt.
»Hast du je wieder von ihr gehört?«, fragte Nora leise.
Er nickte kaum wahrnehmbar und richtete den Blick auf sie, sagte aber nichts.
»Was hat sie gesagt?«, flüsterte
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