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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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waren – allesamt ausgeblichene Fotoserien von Marlowe.
    »Hier drin kann sie nicht sein«, sagte er, nachdem ich ihm die Lage erklärt hatte. »Ich war die ganze Zeit hier.«
    Im selben Augenblick, in dem er das sagte, sah ich
direkt
hinter ihm, wie sich die Küchentür bewegte.
    »Miss Hughes?«, rief ich. »Haben Sie keine Angst. Wir wollen uns nur unterhalten.«
    Als ich mich einen Schritt der Tür näherte, wurde sie aufgestoßen und eine zierliche, in schwarzen Satin eingehüllte Gestalt, deren Gesicht von einer voluminösen Kapuze verdeckt wurde, sprang von einer Arbeitsplatte und ging mit einem Fleischerbeil auf mich los.
    Ich wehrte den Angriff problemlos ab – sie war so stark wie eine Pusteblume –, und das Beil fiel scheppernd auf den Boden. Ihre Schulter war erschreckend zerbrechlich – es war, als packte man eine Zaunspitze. Instinktiv ließ ich los und sie fuhr herum, trat mir
fest
zwischen die Beine und flitzte hinaus. Die Küchentür schwang heftig nach. Wir liefen hinterher, Hopper erwischte die Kapuze ihres Morgenrocks.
    Sie kreischte, als er seine Arme um sie schloss, sie strampelnd ins Wohnzimmer schleppte und in einen lilafarbenen Samtsessel unter Kunstpalmen platzierte.
    »Beruhigen Sie sich«, sagte er. »Wir werden Ihnen nicht weh tun.«
    Nora schaltete das Deckenlicht an, und sofort rollte sich Marlowe in Embryonalstellung zusammen. Sie vergrub ihr Gesicht zwischen den Knien, als sei sie ein lichtempfindlicher Nachtblüher. Ihr Seidenrock, dessen Innenseite tomatenrot war, bedeckte sie komplett, so dass sie nicht viel mehr als ein Haufen Stoff auf einem Sessel zu sein schien.
    »Mach das Licht aus«, flüsterte sie mit heiserer Stimme. »Mach es
aus

    Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Es war
ihre
Stimme.
    Marlowe hatte eine ganz eigene – »eine Stimme, die sich den ganzen Tag im Morgenmantel herumfläzt« hatte Pauline Kael in ihrer begeisterten Rezension von »Kind der Liebe« im
New Yorker
geschrieben. Und es stimmte. Selbst wenn Marlowe auf der Flucht vor Gangstern war, vom Dach eines Gebäudes baumelte oder ihren Erpresser mit Benzin übergoss und mit einem Streichholz anzündete, war ihre Stimme honigsüß und klebrig.
    Nach all den Jahren klang sie noch immer so, wenn auch etwas langsamer und noch klebriger.
    Ich gab Nora ein Zeichen, das Licht zu löschen. Dann öffnete ich die Vorhänge. Sofort schien das orangefarbene Neonlicht vom FDR Drive ins Zimmer. Es milderte die Ausstattung etwas ab und verwandelte die Geschmacklosigkeiten in einen nächtlichen Garten. Falsche Rosen, goldene Stühle und ein geblümtes Sofa wurden zu rätselhaften, mit Wildblumen überwachsenen Baumstümpfen.
    Langsam hob Hughes den Kopf. Fahles Licht fiel ihr seitlich ins Gesicht.
    Wir drei starrten sie voller Erstaunen, voller Schreck an. Das berühmte gespaltene Kinn, das herzförmige Gesicht und die auseinanderstehenden Augen waren immer noch da, jedoch so erodiert, dass man sie kaum erkennen konnte. Sie war ein Tempel in Trümmern. Sie hatte schreckliche Schönheitsoperationen vornehmen lassen, nicht solche, bei denen nur hier und da ein bisschen gestrafft wird, sondern mutwillige Zerstörung: Die Wangenknochen traten hervor, die Augen und Haut waren so gespannt, als hätte sie das Leben an den Nähten auseinandergezogen. Ihre Haut war wächsern und grau, die Augenbrauen als zittrige Striche aufgemalt, offenbar mit einem Filzstift.
    Wenn es je einen Beweis dafür gab, dass nichts von Ewigkeit ist, dass die Zeit alle Rosen verblühen lässt, dann war sie es. Mein erster Gedanke entsprang einem Sciencefiction-Film, dass nämlich ihre immense Schönheit eine Art Alien gewesen war, der sich von ihr ernährt und sie lebendig aufgefressen hatte, um dann weiterzuziehen und nur diesen bis auf das Skelett ausgezehrten Körper zurückzulassen.
    »Seid ihr gekommen, um mich zu töten?«, flüsterte Marlowe fröhlich, vielleicht sogar hoffnungsfroh. Sie legte den Kopf in den Nacken, als posierte sie für ein Foto. Ihr Profil schimmerte golden im Licht. Die Rundungen und Kanten waren noch die gleichen wie in ihrer Jugend (»ein Profil, das man am liebsten mit Skiern erkunden würde«, hatte Vincent Canby in seiner
Times
-Rezension geschwärmt), aber es war erodiert, eine lustlos hingekritzelte Kopie von dem, was es einmal war.
    »Nein«, sagte ich ruhig und setzte mich vor sie auf einen Stuhl. »Wir sind hier, weil wir etwas über Cordova erfahren wollen.«
    »Cordova.«
    Sie sagte es mit

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