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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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Wand. Links und rechts davon waren Rosen auf die Wand gemalt, die an einem Gerüst bis zur Decke emporrankten. Nora lief hin und stöberte hinter den Büchern.
    »Hier ist nur Schnaps«, sagte sie und zog eine große Flasche hervor. Sie las das Etikett. »Heaven Hill Old Style Bourbon.«
    »
Wirklich
? So eine Schande. Lucille muss mein Evian konfisziert haben. Sie sieht es überhaupt nicht gern, wenn ich Wasser trinke. Will, dass ich bei dieser Selbsthilfegruppe mitmache, die Anonymen Hydrierten oder irgend so’n Scheiß. Dann muss ich eben mit diesem, äh, Bourbon vorliebnehmen.
Bring mir meinen Heaven Hill.
Und nicht trödeln.«
    Nora zögerte.
    »Gib sie ihr«, sagte ich.
    »Und was, wenn sich das nicht mit ihren Tabletten verträgt?«
    Mein Bauch sagte mir, dass die alte Marlowe nicht auf Tabletten war – oder auf irgendwas. Als sie wie einer der geflügelten Affen aus »Der Zauberer von Oz« von der Arbeitsplatte gesprungen war, hatte sie ausgezeichnete Reflexe bewiesen. Die absurden Sachen, die sie von sich gab, schienen rein psychisch bedingt zu sein, ein Nebeneffekt vom jahrelangen Eingesperrtsein. Hinter dem vorgetäuschten Erschrecken über unser Eindringen war deutlich zu erkennen, dass sie auf ein Live-Publikum gewartet hatte.
    »Gib sie ihr.«
    Marlowe fiel fast aus dem Sessel, als sie Nora die Flasche abnahm. Mit Händen, die sich schneller bewegten als die eines Black-Jack-Croupiers in Vegas, schraubte sie den Deckel ab und setzte die Flasche an. Ich hatte noch nie einen solchen Durst gesehen, höchstens in der Sprite-Werbung. An einem leisen Klirren von Metall gegen Glas bemerkte ich, dass ihre weißen Spinnenfinger aus dem langen Ärmel gerutscht waren. Sie trug nur ein einziges Stück Schmuck, einen Ring mit einer großen schwarzen Perle.
    Den hatte ihr angeblich ihr ehemaliger Verlobter Knightly gegeben, am Tag, als er die Verlobung aufgelöst hatte. Obwohl ich Beckmans Geschichte bereits überprüft hatte, war es aufregend, dieses Symbol eines gebrochenen Herzens jetzt und hier vor mir zu sehen.
    Marlowe setzte die Flasche ab, schnappte nach Luft und wischte sich den Mund ab. Sie lehnte sich zurück und machte es sich in ihrem Sessel bequem. Sie wirkte jetzt entspannt und seltsam strahlend. Die Flasche hielt sie wie ein gewickeltes Kind fest in den Armen.
    »Ihr wollt also etwas über Cordova erfahren, Schätzchen«, flüsterte Marlowe.
    »Ja«, sagte Nora.
    »Seid ihr
sicher
? Manches Wissen frisst einen auf.«
    »Das Risiko gehen wir ein.«
    Diese Antwort schien ihr zu gefallen. Sie rüstete sich für irgendetwas, sie
bereitete etwas vor
.
    Es dauerte mindestens zwei oder drei Minuten, bis sie wieder sprach. Ihre leise Stimme, die vorhin noch voller Steine und von Schlaglöchern zerfurcht gewesen war, klang plötzlich frisch geteert und schlängelte sich mühelos durch die Dunkelheit.
    »Was wisst ihr über
The Peak
?«, flüsterte sie.

86
    »Das ist Cordovas legendäres Anwesen«, sagte ich. »Es liegt in den Wäldern nördlich vom Lows Lake.«
    »Wusstest ihr, dass an diesem Ort ein Blutbad an Mohawks stattgefunden hatte?«
    »Nein, wusste ich nicht.«
    Sie leckte sich aufgeregt die Lippen. »Achtundsechzig Frauen und Kinder wurden dort abgeschlachtet, ihre Leichen wurden in eine Grube auf einem Hügel geworfen und angezündet. Genau dort hat man das Fundament des Hauses errichtet. Das wusste Stanny natürlich nicht, als er das Ganze kaufte. Wie er mir erzählt hat, wusste er nur, dass das Pärchen, das dort gewohnt hatte, irgendein britischer Lord und seine blöde Frau, bankrottgegangen waren. Sie hatten vergessen, ihm zu erzählen, dass die Frau dort komplett bekloppt geworden war. Als sie das Anwesen verkauft und nach England zurückgekehrt waren, hatte der Lord keine andere Wahl, als seine arme verrückte Frau in die Anstalt einzuliefern. Tage später rammte sie einem Arzt eine Schere ins Ohr. Sie wurde nach Broadmoor verlegt, einer Klinik für geisteskranke Straftäter. Kurz darauf starb der Lord durch Herzinfarkt. Und damit, wie man so sagt, war die Sache erledigt.«
    Stanny
 – das war offensichtlich ihr Kosename für Cordova. Sie hielt inne, um einen weiteren großen Zug aus der Flasche zu nehmen. Es war, als würde sie sich mit jedem Schluck selbst reanimieren und langsam wieder in Schwung kommen. Sie schien sogar weniger dürr zu sein, sich auszufüllen.
    »Mein Stanny«, fuhr sie fort und räusperte sich, »ist, ohne von all dem zu wissen, mit seiner entzückenden Frau und

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