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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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ihrem Baby direkt in dieses entzückende Herrenhaus eingezogen. Nun bin ich ja ein zynisches altes Miststück, falls ihr es noch nicht bemerkt habt. Ich glaube an nichts. Religion? Der Versuch der Menschen, eine Versicherung für die Ewigkeit abzuschließen. Tod? Das große
Nada
. Liebe? Dopamin im Hirn, das langsam abgebaut wird und nur Verachtung zurücklässt. Aber trotzdem. Allein diese beiden Tatsachen, Blutbad und Wahnsinn? Die hätten
sogar mich
abgeschreckt.«
    Sie nahm noch einen Schluck und wischte sich den Mund am Ärmel ab.
    »Stanny erzählte mir, dass seine Frau am ersten Tag, als die Umzugshelfer gerade weg waren, nach oben verschwand, um sich hinzulegen. Er selbst brach zu einem seiner langen Spaziergänge auf. Er ging immer allein durch den Wald, wenn er eine Idee für einen Film brauchte. Und er brauchte eine. ›Irgendwo in einem leeren Raum‹ war gerade erschienen. Der Film war so gut, dass er vielen das Herz brach. Alle konnten kaum erwarten, was er als Nächstes tun würde.«
    Sie hielt inne und schob ihre knochigen Hände aus den Ärmeln hervor, um am grünen Heaven Hill-Etikett herumzufummeln.
    »Er war schon eine Stunde unterwegs, erst auf einem Pfad und dann auf einem anderen, der ihn tief in den Wald hineinführte, als ihm ein roter Bindfaden auffiel, der an einen Zweig geknotet war. Ein
einzelner
roter Faden
. Wisst ihr, was das bedeutet?«
    Nora schüttelte den Kopf. Marlowe nickte und streckte die Hand aus.
    »Er band den Faden los, ohne sich etwas dabei zu denken, und ging weiter, bis der Weg zu einer kreisrunden Lichtung neben einem brausenden Fluss führte. Auf der Lichtung wuchs
nichts
. Da lag kein einziges Blatt, kein Zapfen und kein Zweig. Nur Dreck. In einem perfekten – einem
zu
perfekten –
Kreis
. Außerhalb davon fand er eine Plastikfolie, auf der in Spiegelschrift nicht zu entziffernde Wörter geschrieben standen. Eine nackte Puppe ohne Kopf war mit den Füßen an ein Brett genagelt, die Handgelenke waren mit rotem Faden umwickelt. Er nahm an, dass irgendwelche Witzbolde aus der Gegend sie dagelassen hatten. Er sammelte den Müll auf und warf alles weg. Aber als er drei Wochen später an dieselbe Stelle kam, sah er auf dem Boden verkohlte Kreise. Dort war etwas verbrannt worden. Dem Geruch nach war es noch nicht lange her. Er beschwerte sich bei der Polizei. Sie schrieben einen Bericht und versicherten ihm, dass sie die Gegend kontrollieren und die Anwohner informieren würden, dass das Haus nicht mehr unbewohnt war. Stanny stellte rund um sein Grundstück
Betreten verboten
-Schilder auf. Einen Monat später wurden seine Frau und er mitten in der Nacht von grellen Schreien geweckt. Es ließ sich nicht erkennen, ob sie von Tieren oder Menschen stammten. Am Morgen ging er zu der Lichtung. Da stand im Mittelpunkt des Kreises ein Altar mit einem neugeborenen Rehkitz darauf. Seine Augen waren ausgestochen und das Maul mit dem roten Faden zugebunden. In die Flanke waren mit einem Messer seltsame Symbole geritzt worden. Stanny war außer sich. Er ging zur Polizei. Wieder setzten sie einen Bericht auf. Und
doch
. Da war etwas in ihren Gesichtern, in den Blicken, die sie sich zuwarfen. Stanny begriff, dass sie nicht nur bereits
wussten
, wer diese Dinge tat, sie waren selbst daran beteiligt. Sie und unzählige andere Leute aus der Stadt nutzten sein Gelände für sadistische Rituale. Nicht, dass das Stanny allzu sehr überrascht hätte. Er lebte schließlich inmitten von verrückten Landeiern, durchgeknalltem
White Trash
, Inzucht betreibenden Vollfreaks.«
    Sie hielt inne und grinste schelmisch, ihre Augen leuchteten.
    »Ihr versteht, was ich meine. Und ihr könnt euch vorstellen, was Stannys liebe Frau Genevra, aus dem Mailänder Geldadel, von diesen hinterwäldlerischen Heiden hielt. Sie redete auf ihn ein, er solle einen Zaun um das Grundstück errichten, um sie zu schützen und diese Leute fernzuhalten. Das tat er. Er stellte einen sechs Meter hohen Elektrozaun auf, was ein Vermögen kostete. Das Problem war, dass er damit eigentlich nicht so sehr die anderen ausgeschlossen, als sich und seine Familie eingeschlossen hatte.«
    Sie verstummte für einen Augenblick.
    »Ich weiß nicht, wie er dazu kam, damit zu experimentieren«, fuhr sie fort. »Er hat es mir nie erzählt. Stanny hatte keine Angst vor dem Unbekannten. Im Universum. In uns selbst. Das war das Thema, das er endlos auslotete. Er fuhr mit U-Booten da hinunter. Er tauchte hinab, zwischen den dunklen Klippen und

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