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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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betraten das Lager. Ich bückte mich und nahm Sam auf den Arm.
    »Nein«, protestierte sie. »Ich bin schon groß.«
    »Nur ganz kurz, Süße.« Ich legte den Zeigefinger an die Lippen und riss die Augen auf – ich versuchte, ihr das Ganze als ein spannendes Spiel zu verkaufen. Dann gingen wir hinein.
    Über uns knisterten fettige, blau fluoreszierende Neonröhren. Hopper und Nora waren weit vor uns, sie folgten im Gänsemarsch dem einzigen erkennbaren Pfad in das Lager hinein – eine enge Schlucht durch Berge von Krempel. Der Raum wirkte wie eine Höhle und erstreckte sich über den gesamten Häuserblock. Das Licht versuchte gar nicht erst, die hinteren Winkel des Ladens zu erreichen, die sich in dreckigen Schatten suhlten. Es gab Tische und Garderoben, einen gerissenen Koffer mit der Aufschrift
Asbesthitzeschutzanzug
, Sherlock Holmes-Pfeifen, eine Flasche mit einer zusammengerollten, eingelegten Kobra, eine rote Flasche, auf der
Champion Balsamierflüssigkeit
stand. Comic-Hefte stapelten sich rings um uns wie die roten Felsformationen in Arizona. Ich hielt die Luft an, um den überwältigenden Gestank nicht einzuatmen – irgendetwas zwischen Mottenkugeln und dem Mundgeruch eines alten Mannes.
    Ich musste vorsichtig sein, denn der Laden kam mir heimtückisch vor, als wartete er nur darauf, dass man aus Versehen mit dem Ellbogen irgendwo gegen stieß. Dann würde alles zusammenkrachen und man bekäme eine Rechnung über ein paar Hunderttausend Dollar.
    Als Sam und ich uns weiter hineingekämpft hatten, vorbei an einer Nähmaschine, einer alten Eisenbahn und einem alten Shaker-Stuhl, an dessen Bein ein mumifizierter Hund zu lehnen schien, erreichten wir einen Bereich, der mit barbarisch aussehenden alten medizinischen Geräten vollgestellt war.
    Ich schob Sam auf die andere Seite von mir, damit sie es nicht sehen konnte: Krankenhausbetten mit grauen Matratzen in Kleinkindgröße, dreckige Schalen, in denen vermutlich Blutegel gelegen hatten, Druckverbände aus Gummi und verkrustete gelbe Ampullen, Pumpen und Spritzen, ein Holzkästchen mit silbernen Zangen in verschiedenen Größen. An der hinteren Wand waren verbeulte Blechbüchsen aufgereiht. Hunderte brauner Arzneiflaschen – jede mit einem weißen Etikett versehen, deren Aufschrift ich aus der Entfernung nicht lesen konnte – standen auf einem Edelstahltisch, an dessen Seiten abgenutzte Lederriemen herabhingen.
Damit wurden die Patienten während der Leukotomie fixiert.
Ich warf einen besorgten Blick auf Sam. Zum Glück sah sie in die andere Richtung auf Hopper.
    Er ging nach hinten, wo ein langer Holztisch voller Papier und einer uralten Registrierkasse stand.
    »Hallo?«, rief er laut. »Jemand da?«
    Nora watete auf der anderen Seite durch das Geschäft und wirkte wie verzaubert. Das überraschte mich nicht. Der Laden war genau nach ihrem Geschmack – vor allem die Vintage-Klamotten, die wie Vogelscheuchen an den Wänden hingen: alte schmutzig-braune Vierziger-Jahre-Kostüme und rosafarbene schulterfreie Kleider, die jemand in den Fünfzigern zum Abschlussball getragen haben musste. Sie blieb neben einem Hutständer stehen und pflückte vorsichtig einen lilafarbenen Filzhut ab – seitlich war eine schwarze Feder angeklebt –, reckte den Hals und setzte ihn auf, dann kletterte sie durch das Gerümpel, um zu einem fleckigen Spiegel zu gelangen, der gegen ein schwarzes Wagenrad lehnte.
    »Hallo?«, brüllte Hopper.
    Stirnrunzelnd nahm er ein Bajonett in die Hand, dessen verrostete Spitze sehr echt aussah.
    »Ich will nicht mehr getragen werden.« Sam strampelte wie ein junges Pferd.
    »Du musst. Dieser Ort ist verwunschen.«
    Sie starrte mich an. »Was ist verwunschen?«
    »Dieser Ort.« Ich trat um eine afrikanische Trommel herum – sie sah aus, als bestehe sie aus konservierter getrockneter Menschenhaut –, um zu Hopper zu gelangen.
    Plötzlich trat ich aus Versehen gegen ein Bein eines Holztisches, der sogleich in der Mitte zusammenklappte. Er war mit angelaufenen Dietrichen, verchromten Kühlerfiguren und einem dreckigen Kristalllüster beladen, und jetzt begann alles herunterzufallen, eine lärmende Kaskade aus Kristalltropfen, Ketten und Hunderten von Schlüsseln, die lautstark auf den Boden rasselten. Während ich mit dem einen Arm Sam gepackt hielt – die ihr Gesicht in meine Schulter bohrte –, gelang es mir, den Lüster mit der anderen Hand aufzufangen und gleichzeitig den Tisch mit dem Knie wieder aufzurichten.
    Hopper schnipste

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