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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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mit den Fingern.
    Er zeigte auf die hintere Wand, an der ein dreckiges Oberlicht und eine Tür mit Milchglasfenster zu sehen waren.
    Ein menschlicher Schatten hatte sich gerade direkt dahinter bewegt, doch dann erstarrte er, als habe er gespürt, dass wir ihn gesehen hatten.
    Der Schatten sah aus wie der eines Mannes, länglicher Kopf, breite Schultern.
    »Ist da jemand?«, rief Hopper noch einmal.
    Nach einem kurzen Zögern öffnete sich die Tür und ein Mann steckte seinen Kopf hindurch. Sein Gesicht war in der Dunkelheit nicht zu erkennen, aber er hatte volles, orange-blondes Haar.
    »Entschuldigung. Ich habe nicht gehört, dass jemand da ist.«
    Die Stimme war heiser und zugleich hell – auf seltsame Weise. Der Mann holte tief Luft, betrat den Raum und schloss die Tür hinter sich. Er sah uns an, doch er blieb genau dort stehen, wo er war, den einen Arm hielt er hinter dem Rücken, die Hand wahrscheinlich am Türknauf, als wäre er darauf vorbereitet, jederzeit auf diesem Weg zu flüchten.
    Das musste er sein. Die Spinne.
    Er war eine eindrucksvolle Erscheinung, mindestens 1 , 98 Meter groß und kräftig gebaut. Er war ganz in Schwarz gekleidet. Die einzige Ausnahme bildete ein weißes Kollar.
    »Womit kann ich Ihnen helfen?« Seine Worte kamen wie ein Schwall hervor, als habe er sie in seinem Mund wie Kieselsteine in einem Abfluss gesammelt, um sie auf einmal auszuspucken. Dadurch hatte er diesen merkwürdig schrillen Tonfall. »Suchen Sie nach etwas Bestimmtem?«
    »Ja«, sagte Hopper und trat langsam auf ihn zu.
»Hugo Villarde.«
    Der Mann blieb vollkommen regungslos stehen.
    »Verstehe.«
    Sonst sagte er nichts, er bewegte mindestens eine Minute lang keinen Muskel. Und doch konnte ich erkennen, obwohl ich noch ein gutes Stück hinter Hopper und Nora stand, dass seine Schultern sich hoben und senkten.
    Er hatte Angst.
    »Sie brauchen nicht wegzulaufen«, sagte Hopper und trat auf ihn zu. »Wir wissen, wer Sie sind. Wir wollen uns nur unterhalten.«
    Der Mann senkte den Kopf, offenbar ergab er sich seinem Schicksal. Das Licht fiel auf sein Haar, ein unnatürlicher Bronzeton.
    »Ich nehme an, Sie sind von der Polizei?«, fragte er.
    Keiner von uns antwortete. Diese Annahme überraschte mich. Schließlich hatte ich ein
Kind
auf dem Arm.
    Aber vielleicht hatte er mich gar nicht bemerkt. Er hielt den Blick auf den Boden gerichtet.
    »Ich wusste, dass Sie kommen würden«, flüsterte er mit schwacher Stimme. »Früher oder später. Also haben Sie da oben alles gefunden, oder? Jetzt kommt doch noch alles heraus.«
    Er sagte dies mit offensichtlicher Furcht in seiner leisen, auf gespenstische Weise weiblichen Stimme.
    »Wie viele waren es?«, flüsterte er.
    »Wie viele
was
?«, sagte ich und machte einen Schritt auf ihn zu.
    Jäh hob er den Kopf, er nahm mich erst jetzt wahr.
    Dann musterte er eindringlich Nora und schließlich Hopper. Ihm ging langsam auf, dass er die Situation falsch eingeschätzt hatte: Wir waren keine Polizisten. Und obwohl er nichts Konkretes tat, merkte ich, dass seine Schultern sich nach dieser Erkenntnis entspannten und sein Kopf sich ein paar Zentimeter hob, als würde er sich jetzt nicht mehr kleinmachen oder verstecken müssen.
    Als er schließlich wieder mich ansah, durchlief mich ein Schauer des Unbehagens. Ich war mir sicher, dass dort bei der Tür eine jetzt noch schwärzere Gestalt stand, als erlangte er langsam sein extremes Selbstvertrauen zurück und als ließe ihn das ein wenig anschwellen, noch dunkler werden.
    Was hatte Marlowe Hughes gesagt?
    Wisst ihr, dieser Priester – der war immer noch da, er hielt sich schweigend am Rand. Sein öliger Schatten war immer um sie herum.
    Obwohl das Gesicht des Mannes bewegungslos blieb, waren seine Augen – soweit ich sehen konnte – neugierig auf Sam gerichtet.
    Ich musste Samantha von ihm wegbringen.
Sofort.

91
    Ich ging mit ihr den schmalen Pfad entlang, der zum vorderen Teil des Ladens zurückführte. Ich wollte sie in sicherer Entfernung wissen, aber noch nah genug, dass ich sie im Auge behalten konnte. Nach ungefähr zehn Metern stieß ich auf einen großen pflaumenblauen Samtsessel, dessen Sitzfläche weiß durchgescheuert war. Daneben stand ein Tisch mit einem Stapel Zeitschriften und einem gelben Plastikpferd, nichts Gefährliches.
    »Neeeein«, jammerte Sam, als ich sie in den Sessel setzte. »Ich will nicht.«
    »Süße, du musst hier auf mich warten.«
    »Hier ist es verwunschen.« Sie starrte mich an, die Verzweiflung

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