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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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stand ihr ins zerknautschte Gesicht geschrieben. Sie war den Tränen nahe.
    »Jetzt nicht mehr, Süße. Jetzt macht es Spaß.«
    Sie schüttelte den Kopf, klammerte sich an mein Bein und drückte ihr Gesicht gegen mein Knie. Ich nahm das Pferd vom Tisch auf.
    »
Lieber Scott
! Weißt du, wer das ist?«
    Sie hielt die Stirn gegen meinen Oberschenkel gepresst, aber schob ihre Gesicht ein Stück nach hinten, um das Spielzeug mit einem Auge sehen zu können.
    »Das ist Hi Ho Silver.
Unglaublich.
Er ist tausend Jahre alt, und wenn du nett zu ihm bist, verrät er dir seine Geheimnisse. Ich bin gleich da vorne. Fass nichts an. Ich bin sofort wieder da. Und dann essen wir beide ein riesiges Eis, okay?«
    Irgendwas muss sie an dem Pferd fasziniert haben – es schien aus den vierziger Jahren zu stammen, der Sattel und die Zügel waren nur aufgemalt –, denn sie nahm es und drehte es missmutig in ihren winzigen Händen.
    Unglücklicherweise hatten alle unseren Dialog verfolgt, Nora und Hopper mit Sorge, Hugo Villarde mit, wie mir schien, einem leichten Lächeln auf den Lippen. Doch als ich auf ihn zutrat, senkte er sofort den Kopf, als ertrage er es nicht, wenn ihn jemand direkt ansah.
    Ich trat zwischen ihn und Sam, um ihm den Blick auf sie zu versperren.
Nur noch ein paar Minuten, dann hau ich verdammt nochmal von hier ab.
    »Fangen wir mit Ashley Cordova an«, sagte Hopper. »Woher kannten Sie sie?«
    Er antwortete nicht.
    »Wieso hat sie nach Ihnen gesucht?«, hakte Hopper nach.
    »Nach mir
gesucht
?«, wiederholte der Mann. »Sie meinen, mich gejagt.«
    »Wieso?«
    Er machte ein paar vorsichtige Schritte von der Tür weg und beugte sich vor, um nach einem Metallhocker zu greifen, der unter dem Tisch versteckt stand. Er zog ihn langsam über den Betonfußboden zu sich – das laute, schabende Kratzgeräusch schien ihm Spaß zu machen –, dann ging er um den Hocker herum, setzte sich auf die äußerste Kante und sah uns an. Die Hacke seines Schuhs – ein schwarzer Cowboystiefel mit aufwendigen weißen Stickereien – stellte er auf die oberste Sprosse.
    So saß er da und blickte uns an wie ein muskulöser alter Schwan, der einmal majestätisch gewesen und jetzt gerade noch am Leben war, auf verstörende Weise anmutig für eine so hünenhafte Erscheinung. Er saß jetzt etwas mehr im Licht und ich sah, dass sein Gesicht runzelig war. Auf der linken Seite war die Haut vom Auge bis hinunter zum Hals mit Blasen und Narben bedeckt.
Marlowe Hughes musste die Wahrheit gesagt haben.
Diese Narben mussten aus der Nacht stammen, von der sie erzählt hatte, als Ashley die Spinne angeblich bei lebendigem Leib verbrannt hatte.
    »Was haben Sie im 30 . Stock des Waldorf Towers gemacht?«, fragte ich.
    Er wirkte überrascht.
    »Ich … ich war mit jemandem verabredet«, sagte er.
    »Mit wem?«, verlangte Hopper zu wissen.
    »Mein entstellter Unwirklicher.«
Er lächelte. »So nannte er sich. Wir haben uns im Internet kennengelernt.«
    »Wer hat wen bezahlt?«, fragte Hopper.
    Villarde neigte den Kopf, er nahm Hoppers unverschämte Frage hin. »Ich habe ihn bezahlt.«
    »Was ist dann passiert?«, fragte ich.
    »Ich befolgte seine sehr konkreten Anweisungen. Ich mietete das Hotelzimmer an. Unter meinem richtigen Namen. Ich zog mich aus, hatte nur einen Bademantel an. Und als ich es dreimal klopfen hörte, öffnete ich die Tür. Ich rechnete damit, dass ein schöner Junge vor mir stehen würde.« Er hielt inne und schluckte. »Ganz sicher nicht dieses
Ding

    »Sie meinen Ashley?«, fragte ich.
    Er sah mir in die Augen. Die bloße Erwähnung ihres Namens schien ihn anzuwidern.
    »Sie hat Sie in die Falle gelockt«, sagte ich.
    Er nickte. »Ich hatte noch nie solche Angst. Ich schubste sie beiseite. Rannte schreiend durch den Flur zum Aufzug, ich schüttelte mich, ich war so schockiert, dass ich Krämpfe bekam. Ich rannte durch die Lobby auf die Straße, nur im Bademantel. Ohne Schlüssel. Ohne Brieftasche. Ich hatte Tausende Dollar im Zimmer gelassen. Aber ich musste da raus. Mein Leben war in Gefahr.«
    Seiner gehauchten, zuckersüßen Stimme nach hätte man denken können, vor uns säße eine nervöse Fünfzehnjährige – und nicht so ein Hüne Ende sechzig. Ich konnte mich nicht an den Widerspruch der trällernden Stimme und seinem Erscheinungsbild gewöhnen. Ich fand ihn sogar umso schwerer zu ertragen, je länger er sprach.
    Noch etwas anderes stimmte an diesem Mann nicht.
    Zum einen hatte ich nicht erwartet, dass er sich

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