Die amerikanische Nacht
sein kann.«
Villarde reagierte gereizt. »
Ich
habe Cordova nichts getan.
Er
war der Vampir. Er ließ einen glauben, von ihm geliebt zu werden, als sei man der wichtigste Mensch der Welt für ihn. Aber dabei saugte er einen nur aus, er zog sämtliches Leben aus einem heraus. Wenn man eine Stunde mit ihm verbrachte, war man anschließend nur noch ein Kadaver. Man verlor jedes Selbstwertgefühl, jedes Maß, als gebe es keinen Unterschied zwischen einem selbst und dem Stuhl, auf dem man saß. Er war natürlich viel lebendiger, er war eine Woche lang frisch gestärkt, er schrieb und filmte, war unersättlich, so wild und voller Leben. Kunst, Sprache, Essen, Männer, Frauen – mit all dem musste man ihn ständig füttern, als wäre er ein ausgehungertes Tier, das man kaum in den Begrenzungen des Menschlichen halten konnte. Sein Hunger war grenzenlos.«
Er spuckte all dies aufgebracht aus und wollte weiterreden, doch dann fing er sich und schwieg.
»Wie lange haben Sie bei Cordova in The Peak gelebt?«, fragte ich.
»Nicht lange. Unsere Freundschaft war nicht mehr dieselbe nach dem Tod seiner ersten Frau. Genevra. Sie war so eifersüchtig auf unsere Verbindung gewesen. Ich hielt es für das Beste, zu gehen. Ich bin ins Ausland gegangen. Aber egal wie weit man geht, um vor jemandem zu fliehen, diese Person lässt sich genauso wenig abschütteln wie die Sterne. Eigentlich hat sie einen nur immer mehr im Griff. Ich war fünfzehn Jahre lang weg. Als ich nach Crow zurückkehrte, ging ich nach The Peak und fragte Stanislas, ob ich wieder bei ihm wohnen dürfe. Ich hatte die Hoffnung, dass wir ein neues Kapitel aufschlagen könnten, dass es wieder so sein könnte, wie es vor dem Tod seiner ersten Frau gewesen war. Aber jetzt hatte er eine neue, Astrid, und ein wunderschönes Kind. Ashley. Außerdem hackte er einen neuen Film aus dem Nichts ins wilde Sein. Damals lebten sehr viele Leute dort, Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler. Doch nach einem Monat nahm er mich zur Seite und sagte, ich solle mir Gedanken über meine Zukunft machen und wo ich die Kirche eröffnen wollte, von der ich immer geträumt hatte. Doch bestimmt ganz weit weg von
ihm
. ›
Es wird Zeit, die Ranken wuchern zu lassen
‹, sagte er gerne. Das sollte heißen, dass es nichts brachte, Teile des Hauses gepflegt und beleuchtet zu halten, wenn man nicht vorhatte, diese Räume noch einmal zu betreten. So lebte er sein Leben. Es war ein ausuferndes Bauwerk von zugewucherten Zimmern, durch deren aufgerissene Decke die Bäume wuchsen und durch deren Boden die Pflanzen hervorbrachen. Ich verstand, was er sagen wollte. Er hatte das schon so oft getan. Er schickte mich weg. Gab mir den Befehl, mich aufzulösen. Unsichtbar zu werden. Stanislas zog immer weiter, er befand sich immer im Krieg, er liebte und ritt im Galopp zum nächsten mysteriösen Fremden, zur nächsten Insel, zum nächsten Meer. Und er hinterließ immer nur Ruinen. Aber er drehte sich nie danach um. Er blickte nie zurück. Ich war tief verletzt. Er war zugleich der gütigste und der grausamste Mensch. Zwischen diesen beiden Eigenschaften wechselte er hin und her, je nachdem, wie es ihm passte. Bei Cordova hatte man das Gefühl, einem schönen funkelnden Licht zu folgen, das einen in den Wald lockte. Sobald man die Orientierung verlor und den Weg zurück nicht mehr fand, richtete es sich bösartig gegen einen, ließ einen spüren, wie nackt man war, blendete und verbrannte einen. Ich konnte nicht weiterziehen. Ich hatte Stanislas seit fünfzehn Jahren nicht überwunden.
Keine Ahnung, warum er verdammt nochmal dachte, dass ich es jetzt könnte.
«
Er fauchte diesen Satz und spuckte dabei, er hatte sich nicht mehr unter Kontrolle, aber dann beruhigte er sich genauso schnell wieder. Er atmete tief durch, um seine Fassung wiederzuerlangen.
Ich konnte ihn nur anstarren. Marlowe Hughes hatte ihn
ölig
genannt – eine seltsame Beschreibung. Aber er wirkte tatsächlich wie ein tückisches Rinnsal von Öl, das aus einer undichten Leitung sickerte und leise, aber unermüdlich auf den Boden tropfte. Der Fleck war erst kaum sichtbar, aber mit der Zeit wurde er riesig, abstoßend.
Und doch, bei allem erbärmlichen Selbstmitleid, war eine echte und sehr tiefe Wunde in ihm zu spüren, die nie verheilt war.
»Kurz nachdem er mich weggeschickt hatte«, fuhr er fort, »habe ich mich mitten in der Nacht ins Zimmer seiner kleinen Tochter geschlichen. Es war so absurd einfach. Schon paradox, dass er keine
Weitere Kostenlose Bücher