Die amerikanische Nacht
Vorkehrungen getroffen hatte, um seine wichtigste Schöpfung zu schützen – ausgerechnet Cordova, der uns immer gewarnt hatte, wir sollten uns vor unserem eigenen Schatten in Acht nehmen, dass es nichts Unheimlicheres auf der Welt gab.« Er lächelte. »Sie hatte keine Angst, als ich sie wach rüttelte. Sie setzte sich auf, rieb sich die Augen und fragte, ob ich schlecht geträumt hatte. Das wäre untertrieben gewesen. Ich erzählte ihr, dass etwas Schreckliches passiert sei. Ich bräuchte ihre Hilfe. Ich sagte, ihr Vater sei von Trollen entführt worden und wir müssten ganz tief in den dunklen Wald hinein, um ihn zu befreien. Ich zog sie unsanft aus dem Bett und sagte ihr, dass sie still sein müsse, sonst würden sie auch ihre Mutter und ihren Bruder holen und sie umbringen. Sie sagte kein Wort. Ich brachte sie direkt in den Keller und dann die Treppe hinunter, zu den Tunneln. Ich machte mir nicht mal die Mühe, ihr Schuhe oder einen Mantel anzuziehen. Aber Ashley hatte keine Angst. Oh nein. Sie war schließlich Cordovas Tochter. Sie fühlte sich mit ihren fünf Jahren so sicher, war so frei von Furcht. Ich kann mich noch an das Geräusch ihrer nackten Füße erinnern, wie weich und sauber sie waren, als sie neben mir durch den dreckigen Gang tapsten, wie meine Taschenlampe den Saum ihres weißen Nachthemdes berührte, es
verbrühte
. Der Tunnel war wie eine schwarze Vene, die sich vor uns immer weiterschlängelte. Als wir die Mitte erreicht hatten, sagte sie, ihr Fuß tue weh. Er blutete. Ich glaube, sie war in einen Nagel getreten. Aber ich zog sie weiter durch den schmalen Tunnel, der uns zu der Lichtung bringen würde. Und zu der
Kreuzung
. Ich war noch nie dort gewesen. Ich hatte mich nie getraut.«
Er schüttelte den Kopf und faltete die Hände, als würde er beten. Ich drehte mich um und sah nach Sam. Sie hatte das Pferd auf den Stapel Zeitschriften gestellt, streichelte seine Mähne und redete leise auf es ein.
Nur noch ein paar Minuten.
»Und dann endlich«, flüsterte Villarde fast unhörbar, »gerade als ich anfing zu glauben, dass wir nicht in den Wald, sondern zum Mittelpunkt der Erde hinabstiegen, erreichten wir das Ende. Da war nur eine Wand aus Erde und eine Metallleiter. Ich kletterte zuerst hinauf und öffnete die Luke. Sie führte in einen dichten Wald. Rechts von mir konnte ich sie in einiger Entfernung sehen, hinter etwas, das wie eine Brücke über einen Fluss aussah. Eine Menschenmenge. Und ein großes Feuer. Das orangefarbene Licht tanzte wie ein Stroboskop auf ihren pechschwarzen Umhängen. Aber so etwas wie die Geräusche, die sie da machten, hatte ich noch nie gehört. Es klang wie Tiere, aber nicht wie ein Tier, das ich kannte. Wie Ziege, Schwein und Mensch in einem. Ich war wie gelähmt. Ich konnte nicht weitergehen. Ich langte hinunter, packte das kleine Mädchen am Arm und zog es die Leiter herauf. Sie schrie vor Schmerz. Ich schubste sie durch die Luke. Und sagte ihr, dass das ihre einzige Chance sei, ihren Vater davor zu beschützen, in der Hölle zu verbrennen. Ich zeigte auf das Feuer und sagte, ihr Papa sei genau da, hinter der Brücke. Sie müsse nur zu ihm laufen, so schnell wie ihre kleinen Füße sie trugen, auf die Weise würde sie ihn retten. Sie hörte mir zu, und aus ihren Augen sprach eine solche Weisheit, ihre grauen Augen waren eigentlich seine Augen. Es war, als wüsste sie genau, was ich tat, als habe sie alles verstanden.«
Er hielt inne, um Luft zu holen. »Ich konnte nicht zusehen. Ich traute mich nicht. Ich kletterte die Leiter hinab, schloss die Luke und sperrte sie ab, damit sie nicht wieder hineinkonnte. Dann rannte ich durch den Tunnel zurück. Ich war noch keine zwei Minuten unterwegs, als ich einen Schrei hörte, der mir durch Mark und Bein ging. Ich erkannte die Stimme. Es war seine. Die meiner großen Liebe. Cordova. Es klang, als werde er zerfleischt, als ob ihn seine geliebten Hunde zerfetzten, ihm Arme und Beine ausrissen. Es war seine Liebe, die ihn zerstörte. Ich blieb nicht stehen. Ich rannte durch den Tunnel zum Haus zurück, nach oben in mein Zimmer. Ich versteckte mich die ganze Nacht unter der Decke. Mein Herz pochte vor Entsetzen über das, was ich getan hatte. Ich wartete, dass er kam. Ich wusste, dass er nicht zögern würde, mich aus Rache zu töten. Aber … ich hatte mich vertan. Der Morgen kam. Es war ein sonniger Tag. Der Himmel war blau, die Wolken wie Zuckerwatte, als sei überhaupt nichts geschehen. Als sei alles nur ein
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