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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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Radios, aber
nichts davon war Sam
.
    »Samantha«, schrie ich.
    Auf einmal hörte ich ein Rascheln.
    Zu meiner Erleichterung streckte Sam ihren Kopf aus dem Krempel hervor. Sie hatte sich unter einem Esstisch versteckt, der voller Tierpräparate stand, Elchköpfe mit Geweih, Luchse, Echsen und Affenschädel. Sie hielt das Plastikpferd eng gegen die Brust gedrückt.
    »Samantha, komm sofort hier her!«
    Sie blinzelte verängstigt und lief gehorsam auf mich zu. Doch dann war ein lautes Kratzen zu hören.
    Neben ihr stand eine Art-déco-Stehlampe mit einem breiten Glaslampenschirm – jetzt erbebte sie, kippte nach vorne, betrunken und
lebendig
.
    »Sam! Bleib stehen!«
    Ich kletterte über einen Schrankkoffer, Comic-Hefte und ein Vogelskelett unter einer Glaskuppel, die zu Boden krachte, doch es war bereits zu spät.
    Sam stürzte vornüber auf den Boden, und die Lampe schlug direkt neben ihr auf, der Lampenschirm zerplatzte, Sekunden bevor sie zu schreien anfing. Ich stieg über eine Krankenbahre und schob Globen und Puppen beiseite, um zu ihr zu gelangen,
zu meiner Sam, meiner lieben Sam
. Ich bemerkte kaum das Durcheinander hinter mir, Schreie und die lauten Schritte von jemandem, der aus dem Laden rannte.

92
    Das Neonlicht im Krankenhaus ließ Cynthias Gesicht blass und weich erscheinen. Sie sah mich an, als sei sie unter Wasser.
    »Der Arzt sagt, sie wird sechs Wochen lang blaue Flecken und zwei blaue Augen haben«, sagte sie. »Und eine Schwellung unter dem Kinn.«
    »Mussten sie nähen?«
    »Vier Stiche an der Hand, wo sie ein Stück Glas entfernen mussten. Aber das wird verheilen.«
    Ich blickte benommen den Gang entlang auf Sams mit Vorhängen abgetrennte Kabine und kämpfte mit dem Kloß in meinem Hals.
    Bruce war gerade bei ihr. Er hatte die Vorhänge zugezogen, aber ich konnte Sam trotzdem durch einen Schlitz sehen. Ihr Gesicht war angeschwollen und rot, an ihrem Kinn klebte ein kleiner quadratischer Verband. Die für die Notaufnahme zuständige Ärztin stand neben dem Bett und sprach mit Bruce.
    Die Ärztin wollte lieber mit ihm sprechen. Ich konnte es ihr nicht verdenken. Als ich nach Hilfe schreiend und mit Sam auf dem Arm in die Notaufnahme gerannt war, hatten die Krankenschwestern bestimmt das Schlimmste gedacht, dass ich sie verletzt hatte.
    Und das hatte ich auch. Selbst als man mir versichert hatte, dass sie wieder gesund werden würde, machte mich die schreckliche Vorstellung immer noch ganz fertig, dass ich für alles verantwortlich war, weil ich Sam in diesen widerlichen Laden mitgenommen hatte. Noch schlimmer war meine zunehmende Überzeugung, dass Villarde es irgendwie so eingefädelt hatte. Ich wusste nicht, wie, und ich konnte es mir nicht erklären, aber ich hatte das Gefühl, dass er sich nur deshalb hingesetzt und so bereitwillig erzählt hatte, um uns in den schwarzen Bann seiner Geschichte zu ziehen, während er die ganze Zeit ausheckte, wie er Samantha verletzen konnte. Ich fragte mich, ob er das getan hatte, um uns abzulenken und zu fliehen, denn in dem Chaos nach Sams Sturz war Villarde einfach aus dem Laden getürmt. Hopper nahm sofort die Verfolgung auf, doch als er die Third Avenue erreichte, war der Mann nicht mehr zu sehen.
    Die Belegschaft der Notaufnahme merkte an meiner Unruhe, dass ich ihnen nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte. Sie waren verständlicherweise erleichtert, als Cynthia und Bruce eintrafen. Ich hatte Cynthia vom Taxi aus angerufen, wenige Minuten bevor ihr Privatjet vom Teterboro Airport in New Jersey starten sollte. Stattdessen war er zurück zum Terminal gerollt. Anderthalb Stunden später war sie da gewesen, und ich wurde von einer Krankenschwester freundlich in den Gang verwiesen.
    Oder lag ich falsch?
War es ein einfacher Unfall gewesen? Es war denkbar, dass mich Villardes Geschichte, das Schreckliche, das er Ashley angetan hatte, so in den Bann gezogen hatte, dass ich nicht mehr klar denken konnte.
    »Sie hat gespielt«, sagte ich zu Cynthia. »Und dabei ist sie an einem Stromkabel hängen geblieben.«
    »Es spielt keine Rolle.«
    Sie sagte das mit völlig monotoner Stimme. Ich sah sie verunsichert an, aber da war nichts zu sehen. Ihr Gesicht war auf bestürzende Weise frei von jeder Regung, wie ein Zimmer, in dem ich einmal gewohnt hatte, und das jetzt ohne Möbel vor mir lag, absolut karg; Stück um Stück war weggeschafft worden, die Leere war so allmählich gekommen, dass ich sie bisher gar nicht bemerkt hatte.
    Sie schüttelte den Kopf, ihre

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