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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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eingesperrt zu sein und von diesen Lampen lebendig gebraten zu werden. Doch selbst als ich den Türstopper aus Gummi unter die Tür klemmte, den ich innen im Sand vergraben fand, fiel die schwere Eisentür jedes Mal mit einem entschiedenen Schlag ins Schloss. Ich gab auf und ließ sie zufallen. Ich überprüfte ein letztes Mal, dass sie sich auch wieder öffnen ließ, und machte mich auf den Weg ins Gewächshaus.
    Es war wie am Amazonas. Stiele, die so fest und verwinkelt waren wie Wasserrohre und voll weißer Röhrenblüten hingen, zweieinhalb Meter hohe Bäume, deren Äste mit Disteln überzogen waren, sternförmige schwarze Blüten, Knospen mit winzigen roten Beeren – all das klammerte sich an meinem Gesicht fest wie Waisenkinder, die um Almosen betteln, um menschliche Nähe. Ihre Aromen waren überwältigend und beißend, im ersten Augenblick süß, doch sobald man sie eingeatmet hatte, waren sie schwer und faulig. Weil ich drei Schichten von Brad Jacksons Wollkleidern trug, die für den brutalen Winter in Vermont gedacht waren, schwitzte ich stark. Trotzdem bemühte ich mich, die Hitze zu ignorieren und drängte mich an einer Gruppe von Bäumen vorbei, von denen gelbe Blüten von der Größe meiner Hand herabhingen. Sie fielen mir ins Gesicht, und der Blütenstaub drang mir säuerlich-beißend in Nase und Mund.
    Ich spuckte aus, doch ein bitterer Nachgeschmack blieb. Nach wenigen Metern sah ich zu meiner Erleichterung etwas, das ich erkannte: den Koiteich.
    Der in Stein gefasste Teich war kreisrund und bis zum Rand mit schwarzem Wasser gefüllt. In »Warte hier auf mich« schwebten riesige Amazonas-Seerosen auf der Oberfläche.
Und als Special Agent Fox beinahe in dem Teich ertrinkt, weil der Mörder ihn unter Wasser drückt, versucht er sich verzweifelt daran festzuklammern, doch sie lösen sich zwischen seinen Fingern einfach auf.
    Jetzt war der Teich frei von Pflanzen, das schwarze Wasser lag so glatt und ruhig da, dass es aus Plastik zu sein schien. Doch als ich an den Pflanzen vorbei zum Rand des Beckens trat, sah ich, dass es echt war. Ich steckte einen Finger hinein, um sicherzugehen. Kreisrunde Wellen brachen die Reflexion der roten Lampen und der riesigen Glas- und Eisenkonstruktion darüber.
    Ich vermutete, dass es in dem Becken, zwanzig Jahre nach dem Filmdreh, keine Kois mehr gab. Aber nein – da huschte etwas Weiß-Oranges durch das trübe Wasser. Genauso schnell war es auch wieder verschwunden.
    Jemand musste regelmäßig herkommen, um die Fische zu füttern.
    Im Film fütterte Popcorn sie mit Cracker Jacks, einer süßen Mischung aus Popcorn und Erdnüssen. Die Packung steckte in einer der vorderen Taschen seines vor Dreck starrenden Levis-Overalls.
    Vielleicht tat er das noch immer.
    Vielleicht lebte und arbeitete der arme Mann noch hier.
    Der Gedanke ließ mich umdrehen und die Blätter nach dem alten Gärtner absuchen, seinem faltigen, glänzend schwarzen Gesicht mit seinem einzelnen Goldzahn. »Das prächtige Gewächshaus der Reinharts ist Popcorns heilige Zufluchtsstätte«, das hatte Beckman einmal nachts zu seinen Studenten gesagt. »Dort entkommt er dem Spott der anderen – es ist der einzige Ort auf der Welt, an dem er keine Angst hat.«
    Ich nahm mir die Zeit, meinen Verstand neu zu kalibrieren, mich zu versichern, dass ich allein war und dass alles, was ich hier fand, Cordovas Kopf entsprungen war. Ich war nicht in »Warte hier auf mich« und war es nie gewesen – doch allein die Tatsache, dass ich mich dieser Tatsache versichern musste, war erschreckend genug.
    Hatte ich bereits meinen Verstand verloren?
Noch nicht ganz.
    Ich wischte mir den Schweiß vom Gesicht und ging am Teich vorbei in die in rotes Licht getauchte Vegetation hinein.
    Minuten später hatte ich gefunden, was ich suchte:
Popcorns Arbeitsschuppen.
    Die alte blaue Holztür war nur angelehnt, außen war dasselbe krumme Schild angenagelt: PRIVAT  – BETRETEN VERBOTEN . Ich stieß die Tür vorsichtig auf.
    Popcorn war nicht zu Hause.
    Der Raum war nicht größer als ein begehbarer Kleiderschrank. Die Regale waren ganz genau organisiert, es gab Fächer für Samentütchen, Plastikschalen, Terrakottatöpfe, Säcke von Mulch und Düngemittel. Direkt vor mir, mit Blick auf die Glaswand des Gewächshauses – die zu schmutzig war, um hindurchsehen zu können –, stand ein Schreibtisch und ein Stuhl. Hier rauchte Popcorn immer seine Zigarren und las Comics. Ein kleiner Drahtkäfig – eine Art Waschbärenfalle –

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