Die amerikanische Nacht
um. Hinter mir war wieder das Licht der Taschenlampe zu sehen, und eine weitere kam direkt auf mich zu. Ich packte die Rohre eines Gerüstes und begann zu klettern. Nach drei, vier Metern erreichte ich eine Plattform aus Holz. Ich zog mich darauf.
»Hast du was gesehen?«, hörte ich eine männliche Stimme unter mir sagen.
»Er ist in die andere Richtung.«
Ich wartete einige Minuten, bis die Taschenlampen sich entfernt hatten, und stand dann vorsichtig auf. Die Plattform war stabil, an ihr waren Wolframlampen festgemacht, die nach unten in eine Art gepflasterten Innenraum gerichtet waren. Ungefähr einen Meter von mir entfernt stand eine Säule mit einem Banner, auf dem stand – ich konnte die Worte kaum erkennen – BEWEGE DAS WASSER . Dies war Father Jinleys Kirche aus »Ein Riss im Fenster«. Direkt unter mir waren in der Wand Buntglasfenster mit einem sieben Zentimeter breiten Vorsprung eingelassen. Ich beugte mich hinab, ließ mich auf diesen Vorsprung rutschen, betete still ein
Ave Maria
und sprang – mein Plan war, die Säule zu packen und daran hinabzurutschen.
Ich verfehlte sie. Ich erwischte bloß eine Art Holztafel, um meinen Sturz abzufangen. Sie riss aus der Wand und ich krachte inmitten klappernder kleiner Platten auf den Boden, die Tafel schlidderte über die Steinplatten.
Scheiße.
Ich stolperte auf die Füße und sah, dass eine Taschenlampe den gewölbten Gang vor mir entlangkam, das Licht beleuchtete eine Gewölbedecke und Alkoven mit Statuen. Ich lief in die andere Richtung, vorbei an Reihen von Bänken, zum hinteren Portal, wo ich in einer Ecke den Beichtstuhl entdeckte. Der bloße Anblick ließ mir das Herz in die Hose rutschen, doch ich öffnete die verzierte Tür – sie ächzte ganz schwach – und kletterte hinein.
Es war eng mit dem Rucksack auf dem Rücken, und stockdunkel.
Ich hockte mich auf den Boden und wartete.
Sekunden später hörte ich, wie jemand die Kirche betrat und stehen blieb – ganz sicher hatte er die Liedanzeige entdeckt, die ich von der Wand gerissen hatte.
Ich wartete mit pochendem Herzen. Ich bemerkte einen strengen Geruch.
Erbrochenes? Urin?
Jetzt waren die Schritte wieder zu hören, die Taschenlampe kam näher und beleuchtete die Tür des Beichtstuhls, die, wie ich jetzt sehen konnte, aus einem aus Holz geschnitzten Gitter von Ranken und Blumen bestand. Ich erkannte das Muster wieder und konnte kaum glauben, dass ich jetzt ängstlich daraus hervorstarrte, ganz genau wie Father Jinley hinausgestarrt hatte – wenn auch aus anderen Gründen.
Die Eröffnungsszene des Filmes spielt genau hier, wo Jinley seine erste Beichte abnimmt. Er kommt frisch aus dem Priesterseminar und glaubt mit dem arroganten Optimismus der Jungen und Unerfahrenen, die Verderbten auf den rechten Weg führen zu können. Nachdem er mehr als eine Stunde gewartet hat, ohne dass auch nur ein einziger reuiger Sünder aufgetaucht ist, betritt schließlich eine mysteriöse Gestalt die andere Kabine des Beichtstuhls und lässt sich mit einem unheilvollen Geräusch auf den Sitz fallen.
Die Erinnerung ließ mich unweigerlich den Hals recken und das Beichtfenster betrachten, das sich nur wenige Zentimeter über meinem Kopf befand, auch wenn die dunkle, vergitterte Zwischenwand absolute Anonymität sicherstellte.
Wie der Priester bald merkt, kennt der rätselhafte Fremde Jinleys dunkles Geheimnis, dass er nämlich seine drei Jahre alte uneheliche Tochter auf ein Dach in Brooklyn gestellt und ihr erlaubt hat, die am Dachrand sitzenden Tauben zu jagen. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und stürzte tief unten in den Tod – während Jinley von hinter der Gardine aus zusah und nicht eingriff. Jinley hatte natürlich seine Gründe – er glaubte, dass das kleine Mädchen der leibhaftige Teufel war. Doch wer ihn an diesem Nachmittag beobachtet hat, wer diese geheimnisvolle Person auf der anderen Seite ist, die jetzt im Flüsterton schwört, ihn
zu zerreißen und dazu zu bringen, Gott zu verleugnen
– diese Fragen beschäftigen Jinley den ganzen Film über. Das Rätsel um die Person ist dabei noch erschreckender als sein Geheimnis.
Ich merkte, dass die Schritte sich in eine andere Richtung entfernten. Das schwache Licht war verschwunden.
Ich richtete mich einige Zentimeter auf, setzte mich auf den Holzsitz hinter mir und lauschte. Ich schien allein zu sein. Hatte Father Jinley auf dieser Seite des Beichtstuhls gesessen oder auf der anderen? War ich auf der Seite des Guten oder des
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