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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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steckt Axel die
Tiffany’s
-Tüte an ihre Stelle. Leigh wartet, bis er weggefahren ist, und macht sich dann selbst auf den Weg zu dem Schulbus, sie schlittert und rutscht durch den Müll. Sie zieht die
Tiffany’s
-Tüte hervor und findet darin ein kleines blaues
Tiffany’s
-Ringkästchen, wie es für Verlobungsringe verwendet wird. Leigh will das Kästchen gerade öffnen, als sie bemerkt, wie ein weiteres schwarzes Auto auf den Parkplatz der Müllhalde rollt. Sie verliert das Gleichgewicht, rutscht aus, und das blaue
Tiffany’s
-Kästchen fällt durch ein geöffnetes Fenster in den alten Bus hinein. Leigh klettert hinterher. Minuten später erscheint der Gangster, der nur als Y bekannt ist, um die
Tiffany’s
-Tüte zu holen. Er braucht nicht lange, um zu merken, dass die Tüte leer ist und Leigh in dem Bus kauert. Und in diesem Augenblick wechselt »La Douleur« von voyeuristischer Spannung zu einem fesselnden Verwechslungs-Albtraum.
    Die Mülldeponie roch nicht gefährlich. Es hing eine modrige Feuchtigkeit in der Luft, als sei das hier ein unterirdischer Keller, der jahrelang verschlossen gewesen war. Ganz schwach war auch der Geruch nach Benzin wahrzunehmen. Ich hielt an, um mich umzusehen, und stellte erstaunt fest, dass ich tatsächlich
draußen
zu sein schien. Gigantische Leinwände waren am Gerüst angebracht und sorgten für die Illusion eines weiten Himmels. Ich konnte geisterhafte Wolken erkennen, doch in gut sechs Metern Höhe hörten die Leinwände auf. Darüber war nur noch die leere schwarze Tonbühne zu sehen. Der Effekt war schwindelerregend und schien eine Wahrheit über die grundsätzlich blinde Natur der menschlichen Wahrnehmung nahezulegen.
Würdest du nur ein bisschen weiter sehen, McGrath, dann würdest du erkennen, dass sich alles … in nichts auflöste.
    Es war mir zuvor nicht aufgefallen, doch weiter unten, ungefähr dort, wo ich das Set betreten hatte, war ein kleiner, von Büschen gesäumter Schotterparkplatz, auf dem unter einer ausgeschalteten Laterne ein einziges Auto parkte. Mit einem Schauer des Unbehagens wurde mir klar, dass es Leighs kastenförmiger blauer Chevy Citation war, direkt aus den Achtzigern. Er sah aus, als wartete er darauf, dass sie zurückkam.
    Vielleicht war sie nie zurückgekehrt.
Vielleicht hatte Leigh dieses Lagerhaus nie verlassen – oder The Peak. Ich konnte mich nicht erinnern, dass die Schauspielerin noch in einem weiteren Film mitgespielt hatte.
    Ich drehte mich um und blickte mit zusammengekniffenen Augen auf den verschwommenen Klecks oben auf dem Hügel. Während ich darauf zu stolperte, erkannte ich, dass es der umgestürzte Schulbus war, in dem Leigh gefangen gewesen war. In den letzten Minuten von »La Douleur« wird sie von den Gangstern dort hineingesperrt, gefesselt und ihre Augen verbunden. Obwohl sie tapfer kämpft und wild entschlossen ist, ihre Hände mit Hilfe eines Metallnagels zu befreien, der aus einem der kaputten Sitze ragt, bleibt ihr Schicksal unklar. Während sie noch wimmert und heult, blendet der Film in Schwarz ab – doch ihre Schreie sind noch den ganzen Abspann über zu hören, sie werden von dem Massive Attack-Lied »I Against I« so gerade übertönt.
    Der Anstieg war überraschend steil, und ich begann, auf den Plastiktüten, geplatzten Reifen, Matratzen und kaputten Fernsehern wegzurutschen. Nach ein paar Metern merkte ich, dass es nicht nur immer steiler wurde, sondern dass ich außerdem durch meine Schritte den Müll unter mir in Bewegung versetzte. Ich konnte spüren, wie sich alles verschob. Kurz darauf bewegte sich der gesamte Hügel um mich herum. Ich erstarrte und kippte rücklings hinab, wobei ich fast von einer Lawine aus rostigen Dosen und Müllsäcken begraben wurde. Ich kämpfte mich auf die Beine und befreite mich von einem Schutzanzug, in den ich mich verfangen hatte. Dann ließ ich mich zum Rand des Filmsets gleiten, während der komplette Hügel immer mehr in Bewegung geriet, inklusive des Busses.
Es war unmöglich, da hoch zu kommen.
Ich tastete mich bis zu der Himmelskulisse vor, hob den Stoff an und kletterte durch das Gerüst, während die Müllhalde hinter mir immer mehr zusammenbrach. Ich hatte genug von »La Douleur«. Auf keinen Fall würde ich mich von Cordovas Abfall lebendig begraben lassen.
    Ich stolperte auf die Füße und machte mich auf den Weg durch den dunklen Korridor. Weit vor mir, ganz am Ende – es sah aus, als sei es anderthalb Kilometer weit entfernt –, war ein Durchgang mit

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