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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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stand auf dem Tisch, daneben lag ein verblasster Comic mit dem Titel
Mikey’s Friend
und eine halbgerauchte Zigarre in einem Aschenbecher.
    Ich trat ein und griff nach der Zigarre. Sie roch frisch.
    Neben dem Schreibtisch hing eine alte Pinnwand, die mit unleserlichen Anweisungen für den Umgang mit Boden und Pflanzen gespickt war. Außerdem hing dort eine abgegriffene Postkarte, auf der bunte, auf Stelzen stehende Hütten in einer dunklen Bucht zu sehen waren.
    Ich nahm sie ab und sah mir die Rückseite an. Da stand keine Adresse, bloß fünf hingekritzelte Worte.
    Irgendwann bald bist du da.
    Ich hängte die Karte zurück und drehte mich um. Verschiedene Gartenwerkzeuge waren mit alten Nägeln an den Wänden aufgehängt: Handsicheln, Sensen, Baumsägen, Äxte in allen Größen. Ich trat näher heran, um sie mir anzusehen –
genau so, wie Special Agent Fox sie sich angesehen hatte.
    In »Warte hier auf mich« waren die elf jugendlichen Opfer der Leadville-Morde auf eine solche Weise verstümmelt worden, dass ihre Tode den Unfällen ähnelten, die sich in einer alten Papierfabrik ereignet hatten – Verätzungen, explodierte Kessel, in die Walze geraten. Doch es gab noch eine weitere Konstante: Jedes der Opfer war ein Highschool-Schüler und wurde durch einen Stich in die linke Herzkammer getötet, und zwar mit einer Heckenschere, deren spitze Schneiden genau vierundzwanzig Zentimeter lang waren.
    Special Agent Fox schleicht sich mitten in der Nacht hier ein, um Popcorns Gartengeräte zu untersuchen – jede Säge, jede Zange und jede Schere – und eine Klinge mit genau diesen Maßen zu finden. Er findet nichts. Weil die Heckenschere nämlich nicht in dem Schuppen versteckt war, wie er vermutet hatte.
    Wo zur Hölle war sie dann?
    Meine Augen brannten und ich war schweißgebadet. Ich wurde hier drin lebendig gekocht, wie ein Hummer. Die Hitze war so überwältigend, dass ich kaum richtig denken, mich kaum an die Schlüsselszene am Ende des Filmes erinnern konnte, als Popcorn die Heckenschere durch Zufall irgendwo hier drin vergraben findet, in einem seiner geliebten Blumenbeete.
    Ich erinnerte mich, dass Blut auf ihnen war, und an den Gesichtsausdruck des armen Mannes, als er sie beim Aussäen einer neuen Sorte Samen entdeckte, Samen mit einem bizarren Namen. Es war ein Ausdruck größten Schreckens.
    Echten Schreckens?
    War es Einbildung oder wurde es tatsächlich noch heißer hier drin?
    Ich setzte meinen Rucksack ab, zog Brad Jacksons Fischgrätmantel und seine beiden Wollpullover aus und legte sie auf die Drahtfalle. Dann zog ich eine Hacke von der Wand, verließ den Schuppen und ging zum Koiteich.
    Popcorn war im Film die einzige Person, die die Wahrheit hinter den Morden kannte.
»Manchmal kann nur der Schweigende das Ganze sehen.« Hatte Beckman das gesagt oder stammte es aus dem Film?
    Ich musste diese Heckenschere in die Finger bekommen.
    Ich trat in das Blumenbeet, wo die Pflanzen so dicht wuchsen, dass ich den Boden nicht sehen konnte.
    Mir fiel ein weißes, handgeschriebenes Schild auf, das in der Erde steckte. Ich bückte mich.
    EYE-PRICKLES , stand darauf.
    Ich ging ein paar Schritte weiter und fand ein weiteres Schild.
    DEATH CHERRIES
.
    Unter den Blättern waren jede Menge weiterer Schilder dieser Art verteilt.
    BLUE ROCKET. TONGUE-TACKS. SORCERER’S VIOLET. MAD SEEDS.
    Das Letzte kam mir bekannt vor. Ich rollte meine Ärmel hoch, zog die Hacke durch die Erde und spürte sofort etwas Hartes im weichen Boden. Ich bückte mich und sah etwas Glänzendes in der Erde liegen.
    Es war ein Kompass aus Messing, mit gerissenem Schutzglas.
    Er hatte Popcorn gehört. Der Kompass sorgte im Film für jede Menge Spott. Die ganze Stadt machte sich darüber lustig, wie er ihn ständig aus seinem Overall herausholte und ganz genau inspizierte, als müsse er sichergehen, dass er auf seiner hochwichtigen Weltreise noch auf dem richtigen Kurs war. Der Witz dabei war, dass der arme Mann in Leadville geboren und noch nie aus dieser winzigen Stadt herausgekommen war.
    Ich steckte den Kompass ein und schob die Hacke tiefer in die Erde. Ich blieb an etwas anderem hängen.
    Ich ging in die Hocke, um es mir anzusehen. Es war ein halbzerfallener Karton, durchnässt und aufgeweicht, doch die Beschriftung konnte ich noch erkennen.
    Cracker Jacks.
    Ich warf den Karton beiseite und ignorierte das Unbehagen, das mich überkam, indem ich entschlossen weitergrub. Und tatsächlich spürte ich da noch etwas, etwas Großes. Ich

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