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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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Position des Sees einschätzen. In östlicher Richtung gelangte man am schnellsten zur Grenze des Grundstücks und zur nächsten öffentlichen Straße, der Country Road 112 . Dort standen meine Chancen am besten, Hilfe zu holen. Meine Prioritäten hatten sich geändert. Es standen jetzt vielleicht Menschenleben auf dem Spiel, wenn Nora und Hopper hier irgendwo gefangen waren, vielleicht sogar verletzt – oder noch Schlimmeres.
    Während mir beim Rennen diese Gedanken kamen, hatte ich unbewusst Popcorns Kompass aus der Tasche geholt und hielt ihn fest in der Hand, als wäre er ein wertvoller Besitz, eine letzte Hoffnung. Überrascht stellte ich fest, dass zwar das Schutzglas zersplittert war, doch die Nadel zitterte genau nach Norden.
    Ich drehte mich einmal im Kreis, um ihre Lagerung zu testen.
Sie arbeitete tadellos.
    Das Ding funktionierte tatsächlich.
    Ich rannte weiter und sah nur ab und an auf den Kompass, um sicherzugehen, dass ich auf dem richtigen Weg war –
genau wie der alte Popcorn
, worüber sich die gesamte Stadt lustig gemacht hatte.
    Wann zur Hölle würde ich jetzt wieder die Gelegenheit haben, in dieses Gewächshaus zurückzukehren? Ich hatte zu früh aufgegeben.
Popcorn würde, wenn er tatsächlich dort vergraben lag, ein ungehobenes Geheimnis bleiben. In meinem Kopf drehte sich alles. Ich zwang mich, nicht stehen zu bleiben. Der Wald schien in einer grausamen Schleife an mir vorüberzuziehen, wie der künstliche Bildhintergrund in einem alten Film, wo die Figuren lenken und sich unterhalten, aber nie auf die Straße sehen.
Waren das echte Bäume?
Die Stämme sämtlicher Fichten waren lang und kahl und identisch,
jeder einzelne
.
    Und dann sah ich es wieder, links von mir: das Lagerhaus.
    Ich erstarrte vor Schreck.
    Ich war im Kreis gelaufen.
    Popcorns Kompass hatte mir einen Streich gespielt und mich absichtlich in die Irre geführt. Doch nein – als ich mich ein paar Schritte dem riesigen Bauwerk genähert hatte, sah ich, dass diese Halle zylindrisch war, ein gelb angestrichenes Silo.
    Ich kehrte dem Gebäude den Rücken zu und rannte weiter.
    Nach fünfzehn Minuten erreichte ich eine asphaltierte Straße.
Das musste der untere Teil der Einfahrt zu The Peak sein.
Das bedeutete, dass ich auf dem richtigen Weg war. Ermutigt entfernte ich mich von der Straße und zog mich in den Schutz des Waldes zurück, wo ich der ungefähren Richtung der Straße folgte. Minuten später konnte ich vor mir den dunklen Schatten des Militärzaunes erkennen.
    Voller Erleichterung rannte ich darauf zu.
    Es gab keine erkennbaren Stromkabel. Ich riskierte es, meine Hand an den rostigen Drahtzaun zu legen, und wartete auf den elektrischen Schock.
    Ich spürte nichts.
    Ich begann, den Maschendraht hinaufzuklettern. Als ich knapp zwei Meter über dem Boden war, entdeckte ich rechts von mir zwei Dächer, die aus den Bäumen ragten, jedes mit einer schwarzen Spitze.
    Das Torhaus von The Peak.
    Als ich vor Jahren dort mit dem Auto vorbeigekommen war, hatte ich angehalten und ein Foto des Eingangs gemacht. Ich hatte damals unbedingt hineingewollt.
Jetzt wollte ich unbedingt hinaus.
Ich erinnerte mich an das, was die Spinne uns erzählt hatte, wie er den Tunnel benutzte, der das Haupthaus mit dem Torhaus verband, um den Leuten aus Crowthorpe Falls Zugang zum Grundstück zu verschaffen.
    Das bedeutete – sofern die Spinne die Wahrheit gesagt hatte –, dass der Zugang zu dem Labyrinth aus Tunneln, die das Anwesen durchzogen,
genau hier
war
, nur wenige Meter entfernt, direkt unter meiner Nase.
Ich konnte es mit meinen eigenen Augen sehen.
    Nach einem kurzen Zögern kletterte ich den Zaun wieder hinunter, zurück nach The Peak, auch wenn mein Verstand wütend protestierte. Ich sprang zurück ins überwucherte Gras und lief am Zaun entlang direkt auf die beiden weißen Türme zu, die das schmiedeeiserne Tor flankierten.
    Der erste Turm hatte keinen Eingang. Im zweiten war eine schmale schwarze Tür mit einem kleinen Fenster. Innen war kein Licht zu sehen, eine Kamera konnte ich nicht entdecken. Die Farbe blätterte ab, das Glas des Fensters war so dreckig, dass ich nicht hindurchsehen konnte.
    Ich wollte nur einen kurzen Blick auf den Eingang zu den Tunneln werfen, um Villardes Geschichte zu bestätigen
– und dann würde ich verdammt nochmal von hier abhauen.
    Die Tür war verschlossen, also zertrümmerte ich das Fenster mit einem Stein, öffnete die Tür und trat ein. Es war ein winziger Raum mit einem Fenster, durch

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