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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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tatsächlich fortbewegte, hielt ich an und zündete ein weiteres Streichholz an.
    Der enge Gang war um mich herum geschrumpft. Er war jetzt weniger als hundertzwanzig Zentimeter breit und sah in beide Richtungen ganz identisch aus. Mir wurde klar, dass es unendlich verstörender war, das schwache Licht vor mir zu sehen, als sich einfach in die totale Dunkelheit zu stürzen.
Ich konnte genauso gut ganz eintauchen. Ich durfte bloß nicht aufhören zu schwimmen.
Als das Feuer erlosch, warf ich das Streichholz hin und lief weiter, mit der rechten Hand tastete ich mich zur Orientierung an den bröselnden Ziegeln entlang. Das war meine Verbindung zur Welt, zur Realität, denn diese Dunkelheit war so vollkommen, dass sie körperlich greifbar war, ein dicker schwarzer Vorhang. Sie brachte mich durcheinander, sorgte dafür, dass ich mich fragte, ob ich eigentlich durch schwarzes Wasser tauchte und den Weg zu Sauerstoff und Licht vergessen hatte. Die Schwerkraft schien hier unten nur schwach zu sein.
    Ich stolperte über etwas Sperriges und wurde sofort von einer irrationalen Furcht gepackt.
Es war eine Leiche, abgetrennte Gliedmaße.
Ich trat noch einmal davor. Es klang wie ein Bettlaken.
    Ich zündete nervös ein Streichholz an.
    Auf dem Boden lag ein rotes, staubbedecktes Stück Seide.
    Ich hob es auf. Es war ein Kleid – cranberryrot und altmodisch – mit langen Ärmeln und einem schwarzen Kunststoffgürtel. Fast alle der vorderen Knöpfe fehlten. Ich sah am Halsausschnitt nach und fand das blasslila Etikett von Cordovas langjähriger Kostümdesignerin –
Larkin
 –, dann erlosch die Flamme.
    Ich stopfte das Kleid in meinen Rucksack. Dann ging ich weiter. Nach einer Weile kam mir der Gedanke, dass ich versehentlich umgedreht haben könnte und jetzt blindlings zum Torhaus lief, doch ich hielt nicht an.
Das war bloß die Orientierungslosigkeit, die Einwirkung der Dunkelheit auf den Verstand.
Wie schwach war doch die Autorität einer einzelnen Person, sein Vertrauen in seinen Platz in der Welt. Selbst Einstein würde, wenn man ihn dem hier fünfzehn Minuten lang aussetzen würde, die Gesetze der fassbaren Welt in Frage stellen, wer und wo und ob er lebendig oder tot war.
    Zu meinem Erschrecken trat ich schon wieder gegen etwas. Es rutschte lautstark über den Boden. Es war etwas Hartes. Es klang wie ein Stück Holz.
    Nein. Es war ein Knochen.
Ich zündete ein Streichholz an.
    Es war ein schwarzer Lederpumps mit einem verkratzten quadratischen Absatz. Er war mit Staub bedeckt.
    Ohne zu überlegen sah ich auf die Uhr. 19 : 58  Uhr.
    Ich stand auf und hielt das Streichholz vor mir in den Gang.
    Der Ausblick war eine genaue Kopie vom letzten – ein enger gemauerter Gang, der sich in beide Richtungen unendlich weit erstreckte.
    Es sah aus, als hätte ich mich keinen Zentimeter weit bewegt.
    Ich ging weiter und versuchte, die Ruhe zu bewahren.
Wieso lag das Kleid hier unten? Hatte eine Frau zu entkommen versucht?
Genau wie das blutdurchtränkte Karohemd des kleinen Jungen in meiner Tasche wirkte das Kleid wie das Überbleibsel eines Gewaltaktes. Hier zu sterben, allein und frierend, nie gefunden zu werden, nie wieder geliebt zu werden. Sam würde denken, dass ich sie vergessen hatte. Ich versuchte, diese Gedanken wegzuschieben und meine Aufmerksamkeit auf etwas Fröhliches zu richten. Doch dieser Ort war so schwarz und kalt, dass alles Ungezwungene in Sekunden erlosch.
    Ich trat auf etwas.
    Kieselsteine.
    Ich blieb stehen, ich spürte viele davon – hart und rund – unter meinem Stiefel rollen.
Kinderzähne? Backenzähne, die wie Brotkrumen hier verteilt waren
?
    Ich holte ein weiteres Streichholz hervor und zündete es an.
    Es waren keine Zähne, sondern die runden roten Kunststoffknöpfe, die zu dem Kleid gehörten.
    Ich bückte mich, um sie mir anzusehen. Einen Meter vor mir lag an der Wand der andere schwarze Schuh. Ich hob einige der Knöpfe auf, steckte sie in die Tasche von Brads Mantel und richtete mich wieder auf.
    Es war exakt derselbe Anblick – ein schwarzer Tunnel, der sich vor und hinter mir erstreckte, immerfort. Ich stand auf einem Laufband und lief auf der Stelle. Ich war in der vierten Dimension gefangen, im Fegefeuer, wo es weder Zeit noch Fortschritt gab, nur einen reglosen Schwebezustand.
    Das Streichholz, bemerkte ich jetzt, versengte mir die Finger.
    Ich ließ es fallen und ging weiter, schneller als zuvor. Ich konnte spüren, wie mein Verstand ins Schwanken geriet, wie bei einem

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