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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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Bösen?
Wo kam dieser verdammte Gestank her?
Ich beugte mich vor und starrte durch das Trenngitter, dessen Zwischenräume die Form kleiner Kreuze hatte.
    Ich erstarrte vor Schreck.
Da war jemand.
    Da saß ein Mensch auf der anderen Seite.
    Ich traute meinen Augen kaum, doch ich konnte jemanden atmen hören, das Reiben schwerer Stoffe, und dann – als habe er bemerkt, dass er beobachtet wurde – drehte er sich langsam zu mir um.
    Ich konnte nur mit Mühe ein Gesicht erkennen, das unter einer dunklen Kapuze versteckt lag.
    Die nächsten Augenblicke ereigneten sich so schnell, dass ich kaum mitbekam, was ich tat: Ich rannte aus dem Beichtstuhl durch das Querschiff an Jinleys Büro vorbei durch eine Tür, die in eine unterirdische Krypta führte. Es war zu dunkel, um etwas erkennen zu können. Ich streckte die Arme aus und erwartete, auf kalten Stein zu treffen. Doch dann merkte ich, dass ich wieder in der Tonbühne gelandet war.
    Ich hörte ein Hämmern und dann das Ächzen von Neonlampen über mir.
Die Beleuchtung wurde angeschaltet.
Plötzlich war ich von grellem Licht umgeben und halbblind. Ich tastete mich weiter, fand einen Türgriff, zog daran und stolperte in einen eiskalten Raum hinein.
    Bloß war das kein Raum.
    Echte Blätter knirschten unter meinen Füßen. Echter Wind blies mir ins Gesicht. Und als ich aufsah, war ich ganz sicher, den wirklichen Mond über dem Kopf zu haben.
    *
    Ich erlaubte mir erst nicht zu glauben, dass ich tatsächlich aus dieser Tonbühne entkommen war. Doch nachdem ich ein paar Meter gelaufen war, drehte ich mich um und sah das Lagerhaus friedlich zwischen den Bäumen liegen. Es wirkte ganz harmlos, farblos und nichtssagend – keine Spur von den Kreisen der Hölle, die darin versteckt lagen.
    Ich war zurück in der kalten und harten Realität, Gott sei Dank.
Ich lief den Hügel hinab auf den Graves Pond zu. Die Männer schienen mein Entkommen noch nicht bemerkt zu haben, denn niemand lief hinter mir her.
Wer zur Hölle war das? Und was hatte ich auf der anderen Seite des Beichtstuhls gesehen?
    Ich sah auf die Uhr. Ich hatte vergessen, dass sie kaputt war. 19 : 58  Uhr.
    Ich durchsuchte meine Taschen und ging kurz durch, was ich hatte –
das blutdurchtränkte Kinderhemd und Popcorns Kompass.
Beides war da, genau wie mein Taschenmesser, aber meine Kamera war weg. Sie hatte tief in der Manteltasche gesteckt und musste herausgefallen sein, als ich den Mantel wieder angezogen hatte. Ich ärgerte mich über meine Nachlässigkeit, unterdrückte den Drang, umzukehren und sie zu holen, und sprintete los. Der Wind fauchte mir strafend in den Ohren, der Mond leuchtete mir den Weg.
    Ein Hund bellte. Es klang nach einem der Köter, die mich verfolgt hatten, aber jetzt war das Bellen entmutigt, an die Leine gelegt. Es war jedoch nur eine Frage der Zeit, bis es wieder losgelassen wurde.
    Ich hatte den Graves Pond erreicht. Ich schlich zum Ufer und starrte durch die Blätter auf die schimmernde Oberfläche. Von Hopper, Nora oder dem Kanu war noch immer nichts zu sehen – von überhaupt niemandem.
Hopper
und
Nora
. Ich stellte erstaunt fest, dass diese Namen wie aus großer Entfernung zu kommen schienen, aus einer entfernten Vergangenheit.
Wie lange war ich in dieser Tonbühne gewesen? Jahre?
War es eine Art Wurmloch, eine Dimension jenseits der Zeit? Ich hatte gar nicht an die beiden gedacht, mich nicht gefragt, ob es ihnen gutging oder wohin sie verschwunden waren. Ich hatte an gar nichts gedacht außer an Cordova. Diese Filmsets waren Betäubungsmittel, die meinen Kopf so vollständig beherrscht hatten, dass für keinen anderen Gedanken mehr Platz gewesen war.
    Sie mussten aufgebrochen sein, um Hilfe zu holen.
Sie paddelten gerade den Weg zurück, den wir gekommen waren, in Sicherheit. Ich musste das glauben, um mir keine Sorgen zu machen, sondern stattdessen einen neuen Plan zu fassen. Doch mein Bauchgefühl sagte mir, dass Hopper Ashley nicht so leicht aufgegeben hätte. Genauso wenig Nora. Dann mussten sie beide noch irgendwo hier sein und sich verzweifelt im Kreis drehen.
    Ich blickte auf das gegenüberliegende Ufer und den dunklen Hügel hinüber, als ich plötzlich eine weitere Taschenlampe entdeckte, die sich über den Kamm bewegte. Diese Person schien den Weg zu der Anlegestelle aus Holz herunterzulaufen. Vor ihm rannte etwas durch das Gras.
Das musste einer der Hunde sein.
    Ich trat vom Ufer des Sees zurück und lief los, in Richtung Osten. Ich konnte die Richtung anhand der

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