Die amerikanische Nacht
musterte ihn kühl und drehte sich wieder um, sagte aber nichts.
»Sie haben erwähnt, dass Kay einmal auf ihn aufgepasst hat, als Sie wegmussten. Kann er mir etwas über sie erzählen?«
Sie zeigte mit dem Finger auf mich. »Für einen
Freund
wissen Sie ziemlich wenig.«
Da bemerkte ich, dass aus der Wohnung neben mir ein Spalt Licht kam. Die Tür bewegte sich.
Jemand belauschte uns.
Bevor ich sehen konnte, wer es war, polterte es. Die Vermieterin und der Junge waren ins Treppenhaus verschwunden. Ich lief hinter ihnen her.
»Warten Sie!«
»Lassen Sie uns in Ruhe!«
Ich rannte die Stufen hinab, rutschte auf Flyern aus und holte sie auf dem nächsten Absatz ein. Ohne nachzudenken packte ich den Jungen am Arm. Er stieß einen markerschütternden Schrei aus, als hätte ihn jemand mit dem Brenneisen gebrandmarkt.
Ich ließ ihn erschrocken los, doch er hörte nicht auf zu schreien, während er zusah, wie etwas – eine Art Action-Figur, die ihm aus der Hand gefallen war – unter dem Metallgeländer hindurchrutschte und über die Stufen hüpfte, bis es im Erdgeschoss auf den Fliesen liegen blieb. Er wimmerte kurz auf und lief hinterher.
»Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben«, brummte die Frau wütend und ging hinter ihm her. »Holen Sie Ihre
Freunde
und verschwinden Sie. Wir wissen nichts.«
Als ich im Erdgeschoss ankam, suchten die beiden fieberhaft den Hausflur ab. Der Junge richtete sich auf und drehte sich zu der Frau um. Er gestikulierte mit den Händen in der Luft.
Das war Gebärdensprache.
Er war gehörlos.
Und ich hatte ihn erschreckt.
Schuldbewusst drehte ich mich um und suchte den Fliesenboden ab. Ich schob Flyer und Plastikfolien mit dem Fuß zur Seite. Bald hatte ich es in einer beleuchteten Ecke unter der Treppe gefunden.
Es war eine winzige handgeschnitzte Schlange – sieben Zentimeter lang, mit geöffnetem Maul, herausgestreckter Zunge und verdrehtem Körper. Sie war überraschend schwer.
Die Vermieterin stand plötzlich direkt neben mir und schnappte sie mir weg, um sie dem Jungen zu geben. Dann packte sie ihn am Arm und schleifte ihn zu einer Wohnungstür. Als sie den Jungen hineinschob, konnte ich einen Blick in einen vollgestellten Raum und auf einen Fernseher erhaschen, der einen Zeichentrickfilm zeigte. Dann sprang sie hinter ihm hinein und knallte die Tür zu.
Nora und Hopper kamen die Treppe heruntergerast. Das Gebäude dröhnte von ihren Schritten. Sie rannten den Flur entlang und Nora gab mir stumm ein Zeichen, mich zu beeilen. Ich trat in die kalte Abendluft und bemerkte, dass ich nach Atem rang, als hätte ich mich gerade von etwas befreit – von etwas, das mir, ohne dass ich es merkte, die Luft abgeschnürt hatte.
37
»Hast du die Wurzeln mitgenommen?«, fragte ich, als ich Nora und Hopper auf der anderen Straßenseite erreicht hatte.
»Ja«, sagte Nora und öffnete ihre Handtasche, um sie mir zu zeigen.
»Okay, dann schnappen wir uns jetzt ein Taxi …«
»Das können wir nicht. Eine Nachbarin von Ashley kommt runter, um mit uns zu reden.«
Ich erinnerte mich an den Lichtspalt, den ich vor der Nr. 13 gesehen hatte.
»Als du hinter der Vermieterin her bist, steckte eine andere Frau ihren Kopf aus der Tür, weil sie die Unruhe erschreckt hatte. Hopper hat ihr das Foto von Ashley gezeigt und sie hat sie erkannt. Sie kommt gleich runter, um mit uns zu reden.«
»Gute Arbeit.«
»Da ist sie«, flüsterte Nora aufgeregt. Aus der Haustür der 83 Henry Street kam eine Gestalt.
Sie war groß, trug eine weiße Sweatshirtjacke mit Reißverschluss und Turnschuhe. Über der Schulter trug sie eine schwarze Reisetasche. Was auch immer darin sein mochte – die Form ließ auf Sturmgewehre schließen –, schien sehr schwer zu sein, denn sie ging unter dem Gewicht gebückt. Sie eilte über die Straße zu uns herüber.
»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat«, sagte sie außer Atem und hüpfte in einer mächtigen Parfümwolke auf den Bordstein. »Ich konnte meine Schlüssel nicht finden. Ich muss zur Arbeit, deshalb hab ich nicht viel Zeit. Was wollten Sie von mir wissen?«
Ihr Gesicht war recht hübsch und von blondierten Locken umrahmt. Doch weil sie so viel Make-up trug, war kaum zu erkennen, wo sie selbst aufhörte und die Illusion von ihr begann. Sie sah aus wie ungefähr dreißig, doch mir fiel auf, dass sie sich bewusst nicht ins Laternenlicht stellte und ihre Hände in die Taschen ihrer Kapuzenjacke vergraben hielt, die Schultern hochgezogen, als
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