Die amerikanische Nacht
fühlte sie sich nicht ganz wohl, wenn jemand sie von so nahem betrachtete.
»Bloß ein paar Fragen zu Ihrer Nachbarin, Kay.«
Sie lächelte. »Ah, klar. Wie geht’s ihr? Hab sie lange nicht gesehen.«
»Gut«, antwortete ich und ignorierte Noras Blick. »Wir sind Freunde von ihr und interessieren uns für ihren Aufenthalt hier. Was hat sie so gemacht?«
»Mensch, keine Ahnung. Wir haben kaum gesprochen.« Sie stellte die Reisetasche auf dem Gehsteig ab – rätselhaftes metallisches Klirren –, zog ein zusammengeknülltes Taschentuch aus der Tasche und putzte sich die Nase. »
Sorry.
Ich habe gerade eine schwere Erkältung hinter mir. Ich habe Kay nur einmal gesehen.«
»Und wann?«, fragte ich.
»Vor einem Monat? Ich kam gerade von der Arbeit nach Hause. Gegen fünf, sechs Uhr morgens. Ich ging ins Bad, um mich abzuschminken. Es gibt nur eins pro Etage. Alle teilen sich eins. Ich war da vielleicht eine Dreiviertelstunde lang drin, hab mir die Zähne geputzt, vielleicht Selbstgespräche geführt, als ich es plötzlich hinter mir plantschen hörte.« Sie schüttelte sich. »Ich hab mich zu Tode erschreckt. Ich hab geschrien. Wahrscheinlich das ganze Haus aufgeweckt.«
»Wieso?«, fragte ich, als sie nicht weitersprach, sondern sich wieder die Nase putzte.
»Sie war da«, sagte sie und kicherte, ein hoher, glockenheller Klang.
»Kay.«
»Wo?«
»In der Wanne. Sie hatte die ganze Zeit hinter mir gebadet.«
Ich warf Hopper und Nora einen Blick zu. Sie dachten offenbar dasselbe wie ich – das Verstörende an der Szene, die sie uns gerade beschrieben hatte, fiel der Frau gar nicht auf.
»Ich stellte mich vor«, fuhr sie schniefend fort. »Sie sagte mir, wie sie heißt, aber lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen, als hätte sie einen langen Tag hinter sich und keine Lust zu reden. Ich trug noch meine Antifaltencremes auf und wünschte ihr eine gute Nacht. Nachdem ich sie das Bad verlassen gehört hatte, ging ich noch mal zurück, weil ich meine Zahnpasta beim Waschbecken vergessen hatte. Sie hatte das Wasser nicht aus der Wanne gelassen, also steckte ich die Hand hinein, um den Stöpsel zu ziehen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie sie es darin ausgehalten hat, ohne dass ihr Beine und Arme abgefroren sind. Das war wie
Eis
.«
»Sie haben sie nicht wieder gesehen?«, fragte ich.
»Nein. Aber ich hab sie
gehört
. Die Wände hier sind wie Papier. Sie schien zu denselben Zeiten wach zu sein wie ich.«
»Was sind das für Zeiten?«
»Ich arbeite nachts.« Sie sagte es ganz unbestimmt und blickte an uns vorbei auf die menschenleere Straße. »Wissen Sie was? Ich
hab
sie noch mal gesehen. Tut mir leid. Mein Hirn ist ganz benebelt von dem Erkältungsmittel. Es war an meinem freien Abend, also muss es Samstag gewesen sein. Ich kam gerade vom Supermarkt zurück und begegnete Kay im Treppenhaus. Sie wollte in einen Club. Ich erinnere mich nicht an den Namen.« Sie schüttelte den Kopf. »Es war ein Frauenname. Irgendwas Französisches. Ich
glaube
, sie hat gesagt, dass er sich in einem alten Gefängnis auf Long Island befindet. Sie wollte wissen, ob ich schon mal da gewesen bin. War ich aber nicht.«
»Ein altes Gefängnis?«, wiederholte ich.
Sie zuckte mit den Schultern. »Das war ein Fünf-Sekunden-Gespräch. Wissen Sie was? Letzte Woche hab ich zwei Typen vor ihrer Tür gesehen. Sie haben mich angeguckt, als sollte ich mich besser um meinen eigenen Kram kümmern, und das hab ich getan.«
»Wie sahen sie aus?«
»So Typen halt. Einer war älter, der andere vielleicht Mitte dreißig. Später hörte ich, wie Dot die Treppe hochkam und sie verscheuchte. Sie mag keine Fremden.«
»Dot?«
»Genau. Sie haben mit ihr gesprochen.«
»Wohnt ein kleiner Junge bei ihr?«
»Lucian. Das ist ihr Neffe.«
»Wie lange wohnt er schon hier?«
»Solange wie ich in der Straße wohne. Ungefähr ein Jahr.« Sie schniefte und zog ihren Ärmel hoch, um auf die Uhr zu sehen. »Scheiße. Ich muss los.« Sie packte ihre Tasche und hievte sie klirrend auf die Schulter. »Grüßen Sie Kay von mir?«
»Natürlich.«
»Wie können wir Sie erreichen, wenn wir noch weitere Fragen haben?«, wollte Nora wissen.
Nach kurzem Zögern öffnete die Frau ihre Reisetasche und gab Nora eine schwarze Visitenkarte. Dann lächelte sie und lief in Richtung Manhattan Bridge. Nora reichte mir wortlos die Visitenkarte.
IONA , stand dort. ENTERTAINMENT FÜR JUNGGESELLENABSCHIEDE
.
38
»Ein Club auf Long Island«,
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