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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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Holzstange.
    »Hier drunter ist etwas«, sagte Hopper. Er guckte unter das Bett.
    Wir packten die Pritsche und trugen sie in die Mitte des Raumes. Dann starrten wir alle drei verblüfft auf das, was gerade aufgedeckt worden war.
    Keiner von uns sagte ein Wort.

36
    Erst dachte ich, dass es sich um eine Art Ziel handelte. Wenn ich jemals so ein Ding unter meinem Bett finden würde, würde ich wahrscheinlich unweigerlich glauben, dass der Sensenmann persönlich es dort platziert hatte, als Mahnung daran, dass ich bald an der Reihe war –
oder ich hatte Feinde, die mich zu Tode erschrecken wollten
.
    Jemand hatte mit schwarzer Asche vier konzentrische Kreise sorgfältig auf den Boden gestreut. In der Mitte – fast genau unter der Stelle, wo Ashleys Kopf oder Oberkörper gewesen sein musste, wenn sie flach auf dem Bett lag – war eine Pyramide aus Holzkohle. Sie war gut fünfzehn Zentimeter hoch, die Kohle weiß und zerbröckelt, der Zement darunter schwarz verkohlt.
    »Was
ist
das?«, flüsterte Nora.
    »Die Asche stinkt so«, sagte Hopper, der daneben kauerte.
    Nachdem sie Fotos gemacht hatte, fand Nora in ihrer Handtasche einen Sandwichbeutel, den sie auf links drehte. Wir nahmen eine Probe des Pulvers. Es sah aus wie feingehackte Blätter, Dreck und Knochen. Ich verschloss den Beutel und steckte ihn in meine Manteltasche.
    »Himmel noch eins«, flüsterte Hopper hinter uns, »guckt euch das an.«
    Er stand neben der Tür und starrte etwas an, das oberhalb der Tür hing – ein Bündel Stöcke. Es war sorgfältig ganz oben in der Ecke deponiert worden,
als ob man sie übersehen sollte
.
    Hopper zog die Stöcke herunter und hielt sie ins Licht des Flures. Sie sahen aus wie
Wurzeln
 – manche waren dick, manche dünn, andere in engen Spiralen gewunden, doch sie schienen alle von derselben Pflanze zu stammen. Jede war feinsäuberlich mit weißem Bindfaden umwickelt und mit den anderen verknotet worden.
    »Sieht nach okkultem Brauch aus«, sagte ich und nahm das Bündel vorsichtig von Hopper entgegen. Ich war im Laufe der Jahre einigen bizarren religiösen Praktiken begegnet – Babywerfen in Indien; jainistische Mönche, die nackt herumlaufen und nur mit Luft bekleidet sind; Jungs, die von ihrem Stamm gezwungen werden, einen mit 24 -Stunden-Ameisen gefüllten Handschuh zu tragen, um für erwachsen gehalten zu werden. Das hier sah nach etwas in dieser Art aus.
    »Warum hängt es über der Tür?«, fragte Nora.
    Ich sah Hopper an. »Erinnerst du dich, ob Ashley ungewöhnliche Praktiken oder Glaubensvorstellungen befolgt hat?«
    »Nein.«
    »Lasst uns noch mal nachsehen. Vielleicht haben wir etwas übersehen. Und dann hauen wir endlich von hier ab.«
    Nora und Hopper nickten und sahen sich im Zimmer um. Ich wollte gerade zum Nachttisch hinübergehen, als ich im Augenwinkel etwas
Grünes
an der Tür vorbeihuschen sah, gefolgt vom Stakkato klatschender Füße.
Flipflops
.
    Ich steckte den Kopf aus der Tür. Die Vermieterin hetzte den Gang entlang.
Die alte Wachtel hatte uns belauscht.
    »Warten Sie!«, rief ich und lief hinter ihr her.
    »Ich weiß nichts«, knurrte sie.
    »Ihnen muss doch dieser
Geruch
aufgefallen sein, der aus der Wohnung kam.«
    Sie blieb am Ende des Gangs wie angewurzelt stehen und drehte sich zu mir um. Ihre Haut glänzte vor Schweiß.
    »Ich weiß nicht,
was
das Mädchen mit sich angestellt hat.«
    »Hat keiner der Hausbewohner was gesagt?«
    Sie antwortete nicht. Sie hatte eine abstoßende, echsengleiche Art, sich zu bewegen. Erst blieb sie wie versteinert stehen – als wüsste sie, dass das düstere Licht und die rissigen Wände um sie herum sie tarnten –, dann wuselte sie hastig davon. Jetzt verharrte sie gerade vollkommen regungslos und starrte mich mit geneigtem Kopf an.
    »Sie hat den Leuten Angst gemacht.« Sie grinste. »Weiß gar nicht, warum, so dürr war die. Und die Vögel, die bei mir wohnen, sind meistens die, die anderen Leuten Angst machen. Aber ich kümmer mich nicht darum. Die Leute können machen, was sie wollen, solange sie zahlen.«
    Ich war in der Mitte des Gangs angekommen, doch dann blieb ich stehen, denn ein kleiner Junge – höchstens fünf oder sechs Jahre alt – spähte mich durch die Tür zum Treppenhaus an. Einen Moment später trat er in den Gang und stellte sich missmutig hinter die Frau. Er trug ein schmutziges T-Shirt, eine zu kurze Baumwollhose und Socken, die für viel größere Füße gemacht waren.
    »Ist das Ihr Neffe?«, fragte ich.
    Sie

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