Die Anatomie des Todes
Dänemark an die norwegische Westküste hatte er mehrfach versucht, sie in den Abgrund zu schleudern. Doch der Polarwind begnügte sich nicht damit, die Feuchtigkeit auf den StraÃen gefrieren zu lassen, sondern trieb auch den allgegenwärtigen Seenebel über das Land. Eine verhängnisvolle Kombination aus spiegelglatten Fahrbahnen und schlechter Sicht war die Folge. Ein Charakteristikum dieser Gegend. Und nun war zu all den Verkehrsunfällen dieses Unglück hinzugekommen: Ein Drogenabhängiger, der sich mit stimulierenden Substanzen ins Jenseits befördern wollte â ein Sturzflug in den Abgrund, den allein sie noch aufhalten konnte.
Es würde ein ungewöhnlich langer Dienst werden, ein Vierundzwanzigstundenmarathon, den sie nur mit Hilfe einer weiteren Dosis Modafinil durchstehen würde. Und zwar lieber früher als später, weil der stimulierende Effekt schon wieder nachlieÃ. Sie eilte der gläsernen Schiebetür entgegen, die jedes Mal eine bläuliche Färbung annahm, wenn drauÃen der blinkende Rettungswagen vor der Tür stand. Höchste Zeit, die Toten zu wecken.
Die scharfe Nachtluft schlug ihr entgegen, als sie nach drauÃen trat. Die beiden Rettungsfahrer standen bereits am Heck des Fahrzeugs und zogen die Krankentrage mit der dürren Gestalt aus dem Wagen. Sie erkannte den einen von ihnen. Er hieà Antonsen und erinnerte sie an den Bernhardiner, den sie als Kind gehabt hatte. Mit einem Kopfnicken erwiderte er ihren GruÃ.
Maja lächelte den anderen Rettungsfahrer an, einen jungen, schlaksigen Kerl, den sie zum ersten Mal sah. Doch er schien von der ganzen Situation ziemlich mitgenommen zu sein und reagierte nicht.
Antonsen schlängelte sich um die Trage herum, während er dem Patienten Sauerstoff durch einen Beatmungsbeutel gab.
»Ãberdosis. Patient ist Mitte dreiÃig. Hab eine Infusion gelegt und ihm vor neun Minuten 0,8 Milligramm Naloxon verabreicht. Keine Reaktion.«
Er fuhr damit fort, sie über den Zustand des Mannes zu informieren. Alle Werte befanden sich im kritischen Bereich. Sie hörte mit einem Ohr zu, während sie sich über den Patienten beugte. Der Geruch nach Fäkalien war penetrant. Sie warf einen kurzen Blick auf seine beschmutzte Hose und verabreichte ihm durch den Venenkatheter, den Antonsen in der Armbeuge gelegt hatte, eine weitere Dosis Naloxon. Danach hielt sie zwei Finger an den Hals des Mannes und versuchte seinen Puls zu finden. Er war zu schwach, um sich ertasten zu lassen. Sie nahm sich die Minitaschenlampe aus der Brusttasche und steckte sie sich zwischen die Zähne, um beide Hände frei zu haben. Sie zog ein Augenlid nach oben. Die Pupillen waren zu stecknadelgroÃen Punkten verengt. In Anbetracht des unwillkürlichen Stuhlgangs, des instabilen Pulsschlags sowie der viel zu niedrigen Körpertemperatur tippte sie auf eine Ãberdosis von Opiaten. Zweifellos war der schmächtige Körper
damit vollgepumpt, ob es sich nun um Heroin, Morphium oder Methadon handelte. Sie lieà die Lampe wieder in ihrer Tasche verschwinden.
»Name?«
Antonsen zögerte kurz. »An der Tür stand Jo oder Jon.«
Sie kniff den Mann ins Ohrläppchen.
»Jon!«, rief Maja.
Keine Reaktion.
Sie kniff ihn so hart, dass ihr Daumen ganz weià wurde, doch Jo oder Jon schien davon nicht das Geringste zu spüren.
»Hab schon alles versucht. Der ist total weggetreten«, bemerkte Antonsen. »Sollen wir?« Er nickte in Richtung Eingang.
Maja antwortete nicht, sondern bereitete eine Spritze mit Atropin vor. Sie mussten jetzt alles versuchen, sonst würden sie ihn verlieren. Sie verband die Spritze mit dem Venenkatheter und drückte den Stempel ganz nach unten.
Sie hatte schon oft erlebt, dass ein bewusstloser Junkie von einem auf den anderen Moment wieder zu sich kam, als würde er von den Toten auferstehen. Aber dieser Patient zeigte nicht die geringste Regung.
»Okay, dann lass uns â¦Â«
Ehe Maja den Satz beenden konnte, ging ein Ruck durch den Mann auf der Trage, als versuche er, sich durch diese plötzliche Zuckung aus seiner Agonie zu befreien. Dann gab sein Körper auf. Maja griff resolut zur Schere und schnitt sein T-Shirt so weit auf, dass Brust und Bauch entblöÃt waren. Mit beiden Händen drückte sie auf den unteren Teil des Brustkorbs und begann mit der Herzmassage.
»Habt ihr den AED dabei?«
»Mach du mal weiter!«
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