Die Anatomie des Todes
Antonsen übergab seinem jungen Kollegen den Beatmungsbeutel, öffnete die seitliche Schiebetür
und streckte seine Hand nach dem tragbaren Defibrillator aus.
Maja wischte dem Bewusstlosen den Schweià und die Reste von Erbrochenem von der Brust. Dann nahm sie die beiden Elektroden des Defibrillators, platzierte die eine unmittelbar unter dem rechten Schlüsselbein und die andere auf der linken Seite des Brustkorbs. Das EKG des Geräts zeigte ein Kammerflimmern an. Sie stellte 200 Joule ein. Die rote Lampe leuchtete, und ein leiser Heulton signalisierte, dass die Defibrillation nun durchgeführt werden konnte.
»Achtung!«
Der junge Mann trat einen Schritt zurück.
Sie schickte einen Stromstoà durch den Mann auf der Trage. Der Körper bäumte sich auf. Sie betrachtete die flache, unveränderte Linie auf dem Monitor und wartete auf den Sinusrhythmus, der jedoch ausblieb. Sie wiederholte den Vorgang zweimal. Ohne Erfolg. Dann stellte sie den Defibrillator auf maximale 360 Joule ein und löste einen weiteren Stromstoà aus. Weder am Patienten selbst noch auf dem Display war eine Reaktion zu erkennen. Antonsen übernahm wieder den Beatmungsbeutel.
»Wir brauchen Adrenalin!«, rief Maja.
Sie verfluchte sich, nicht daran gedacht zu haben.
Dem leichenblassen Rettungssanitäter stand trotz der kühlen Nacht der Schweià auf der Stirn.
»Habt ihr Adrenalin dabei?« Sie sagte es so ruhig wie möglich.
»Ãh, ja ⦠das ist â¦Â«
»Hinten rechts, die schwarze Tasche.« Antonsen zeigte ihm mit einer Kopfbewegung, wo die Tasche stand.
Der Rettungssanitäter setzte sich in Bewegung, und Antonsen nickte entschuldigend.
»Wir haben alles dabei!«, versicherte er.
Sein junger Kollege hatte die Arzttasche gefunden, stellte sie auf die Heckklappe und wollte sie öffnen â mit dem Resultat, dass sie zur Seite kippte und der gesamte Inhalt auf dem Asphalt landete. Die Glasampullen klirrten, gingen aber nicht zu Bruch. Der Rettungssanitäter stieà einen Schwall von Entschuldigungen aus und versuchte auf allen vieren, den Inhalt in die Tasche zurückzubefördern. Maja drehte sich zu ihm um.
»Adrenalin! Wir brauchen Adrenalin!«
Er suchte fieberhaft und gab ihr schlieÃlich eine Ampulle und eine Einwegspritze.
Mit den Zähnen riss sie die Verpackung auf, zog die farblose Flüssigkeit in die Spritze und vergewisserte sich, dass keine Luftblasen entstanden waren. Dann spritzte sie die Dosis in den leblosen Körper.
Maja und Antonsen starrten auf die EKG-Anzeige, doch sie blieb weiterhin unverändert.
»Wisst ihr, wie lange er schon bewusstlos ist?«
Antonsen schüttelte den Kopf. »Wir waren nach acht Minuten vor Ort.«
»Wer hat euch gerufen?«
»Ein anonymer Anrufer. Wahrscheinlich ein anderer Junkie. Vielleicht war er schon seit zwanzig, fünfundzwanzig Minuten bewusstlos.«
»Schöne Freunde«, sagte sie. »Versuchen wirâs noch mal.«
Sie lieà die Einstellung des Defibrillators bei 360 Joule und aktivierte noch dreimal den StromstoÃ. Sie verabreichte auch eine weitere Dosis Adrenalin, aber nichts konnte das unwillige Herz wieder zum Leben erwecken.
»Wir hören auf.« Vor allem mit Rücksicht auf den Rettungssanitäter fügte sie hinzu: »Wir haben getan, was wir konnten.«
Sie packten ihre Sachen zusammen. Antonsen entfernte den Beatmungsbeutel vom Gesicht des Mannes. Maja warf
einen kurzen Blick auf das ausgemergelte Gesichts des Patienten mit den eingefallenen Wangen und den tiefen Augenhöhlen. Der Schädel schien durch die pergamentartige Haut hindurchzuschimmern. Sie legte ein weiÃes Tuch über ihn.
»Okay, die Notaufnahme braucht von ihm nichts zu wissen.«
»Lieber keine schlechte Reklame, was?«, bemerkte Antonsen, während er die letzten Dinge im Rettungswagen verstaute. Maja lächelte kurz.
Â
Jetzt lag sie dort in Zimmer 8 im Dunkeln. Verschmutzt. Erschöpft. Jo oder Jon. Bald würde er zur Kapelle gebracht werden. Die Vorschriften legten fest, dass sechs Stunden vergehen mussten, bevor Maja den Totenschein ausstellen konnte. Danach würde die Polizei die Identität des Toten ermitteln und gegebenenfalls die Angehörigen informieren.
In diesem Moment hörte Maja das herzzerreiÃende Wimmern des Mädchens mit dem offenen Beinbruch auf Zimmer 3. Heute Abend hatten sich zu viele Unglücke
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