Die andere Seite des Glücks
Herzschlag.
Ich hatte keine Jacke dabei, und der Wind peitschte gegen meine nackten Arme, trieb mir Tränen in die Augen. Frank legte mir die Decke um die Schultern. »Bitte verlang nicht, dass ich mit jemandem rede«, sagte ich.
»Versprochen.«
»Ich muss allein dahin.« Er legte den Arm um meine Schultern, drückte mich kurz an seine Seite und ließ mich dann los. Ich ging zu Joes Pick-up. Natürlich war er nicht abgeschlossen. Seine blaue Daunenjacke, fleckig und abgetragen, genau wie er es mochte. Ich schlüpfte hinein. Sie war sonnengewärmt. Die Decke ließ ich im Wagen, damit sie warm war, wenn er sie brauchte. Die Thermoskanne lag auf dem Boden. Ich schüttelte sie: leer. Ich hob die Gummimatte hoch. Wie erwartet lagen seine Schlüssel darunter, und ich steckte sie in die Tasche.
Durch das Fernglas sah ich im Wasser zahllose Lichter aufblitzen, als mache das Meer Fotos von seinem eigenen Tatort.
Im März und April hatten wir Picknicksachen eingepackt und waren mit den Kindern hierhergefahren, um Wale zu beobachten. Genau mit diesem Fernglas hatten wir den Horizont abgesucht und die grauen Wale bestaunt, die elegant aus dem Wasser glitten und platschend wieder darin verschwanden. Wir hatten den Kindern die Geschichte von Jonas und dem Wal erzählt, wie er ins Meer geworfen und von einem Wal verschlungen worden war und dann in dessen Bauch mit ihm reiste. Annie hatte die Augen gerollt und gesagt: »Ja, klaaar.« Ich hatte gelacht und ihnen gestanden, dass ich als Kind in der Sonntagsschule auch Mühe gehabt hatte, die Geschichte zu glauben.
Doch jetzt war ich bereit, alles zu glauben, alles zu beten, alles zu versprechen. »Bitte, bitte, bitte,
bitte
…«
Ich ging zum unteren Weg, Joe vor Augen, der mit festem Schritt marschierte, am Leben war. Ein leichter Aufstieg am First Rock, die weißen Wasserstrudel tief unten und nicht bedrohlich.
Aber du hast deine eigene Regel gebrochen, Joe, stimmt’s? Die du mir und Annie und Zach immer wieder eingeimpft hast: Kehr dem Meer niemals den Rücken zu.
Ein Boot der Küstenwache bewegte sich kontinuierlich weiter, ohne anzuhalten. Ich warf einen Blick über die Schulter zum Kliff. Es sah aus wie die geballte Faust Gottes, die anhaftenden rötlichen Seefeigen wie seine zerkratzten, blutigen Knöchel.
Bitte, bitte, sag mir, wo er ist.
Ich stieg den Felsen hinab. Die Sonnenspiegelung im Wasser ließ mich zusammenzucken. Doch weiter unten sah ich, dass nicht das Wasser die Sonne reflektierte, sondern ein Stück Metall, das zwischen zwei Felsen eingeklemmt war. War das …? Ich kletterte näher heran, und da, als warte es darauf, von mir entdeckt zu werden, lag Joes Stativ. Ohne die Kamera.
Aber ja, das ist es! Du bist auf der Suche nach deiner Kamera. Du bist ganz krank deswegen und läufst irgendwo desorientiert in den Dünen umher. Jede Menge Wildspuren, sehr verwirrend, irgendwann sehen alle Dünen gleich aus, du weißt nicht mehr, wo du schon gesucht hast, und dann der peitschende Wind, und du bist müde und musst dich hinlegen. So kalt. Ein Reh beäugt dich argwöhnisch, doch dann merkt es, dass du verzweifelt bist, und es kommt näher, legt sich wärmend neben dich und leckt dir das Salz von der Nase.
Es geht dir gut! Du versuchst nur, den Weg zurückzufinden. »Sei mir nicht böse«, wirst du sagen und mir die Tränen mit dem Daumen wegwischen, mein Gesicht in beiden Händen und die Finger in meinen Haaren. »Es tut mir so leid«, wirst du sagen. Ich werde den Kopf schütteln zum Zeichen, dass ich dir vergebe und danke, dass du gegen die Welle angekämpft hast und zu uns zurückgekommen bist. Ich drücke meine Nase in deinen Hals, das Salz reibt auf meiner Wange. Du wirst nach getrocknetem Blut und Fisch und Seetang und Wild und Holzrauch und Leben riechen.
Ich wanderte bis nach Einbruch der Dunkelheit in den Dünen umher, lange nachdem sie die Suche für den Tag abgebrochen hatten. Der Halbmond gab nichts preis. Frank sagte kaum etwas. Normalerweise redete er ununterbrochen.
Joes Grüne Hornisse war neben Franks Streifenwagen noch das einzige Auto auf dem Parkplatz. Ich wollte den Pick-up für Joe dort stehenlassen, schloss ihn aber auf und legte den Schlüssel wieder unter die Fußmatte. Ich zog seine Jacke aus und ließ sie ebenfalls zurück, zusammen mit der Decke.
Ich stieg zu Frank in den Streifenwagen, hörte stumm zu, wie die Zentrale über Funk eine häusliche Auseinandersetzung meldete und die Adresse durchgab. Ich wollte bei den Kindern sein,
Weitere Kostenlose Bücher