Die andere Seite des Glücks
von Großvater Sergios Laden wiederaufleben zu lassen. Und die Ode auf unsere Picknicks würde ihm bestimmt gefallen.
Ich brauchte David. Er musste sehen, dass der Laden mit meinem Vorschlag nicht nur gerettet werden und sogar Gewinn machen konnte, sondern damit auch seiner Geschichte gehuldigt wurde. Meine Kochkünste reichten für den Hausgebrauch aus, aber David konnte unser Speisenangebot auf eine ganz andere Ebene bringen. Außerdem hatte ich einiges zu lernen, was die finanzielle Seite eines Geschäfts betraf. Ohne ihn war das Ganze aussichtslos, und dabei hatte ich noch nicht einmal das Problem mit der Lebensversicherung erwähnt, niemandem gegenüber.
Die Familie musste mit an Bord, so viel war sicher. Was natürlich bedeutete, dass ich nicht länger verheimlichen konnte, wie schlecht es um den Laden stand. Das hätte ich schon längst offenbaren sollen, aber es war mir wie Verrat vorgekommen. Ich musste unbedingt mit Joe reden.
Eines Abends nahm ich den Hörer in die Hand und wählte die Nummer vom Laden. Das hatte ich schon oft getan, nur um seine Stimme zu hören. »Vielen Dank für Ihren Anruf in Capozzi’s Market. Momentan bedienen wir gerade Kunden, aber wenn Sie Ihre Nummer hinterlassen, rufen wir Sie so bald wie möglich zurück.«
Doch das jetzt war anders. Diesmal rief ich an, um wirklich mit ihm zu
sprechen
. Wobei zumindest mein Arm und meine Finger vorübergehend vergaßen, dass Joe tot war, während ich den Hörer abnahm und die Nummer wählte, damit ich sagen konnte:
Hallo Schatz, was soll ich machen? Komm nach Hause, das Abendessen ist fertig – ich habe Linsensuppe gekocht –, und wir finden einen Weg aus dem Schlamassel. Oh, und kannst du noch Kaffee mitbringen?
Als der Anrufbeantworter ansprang, holte mich seine Stimme schlagartig zurück in die Gegenwart. Ich drückte auf die Gabel und lauschte dem Freizeichen, das flach und teilnahmslos in mein Ohr drang, in meinen Kopf, meinen Hals, mein Herz. Den Laden umzumodeln würde auch bedeuten, die Ansage des Anrufbeantworters zu ändern. Dazu hatte ich mich bislang nicht überwinden können.
In der nächsten Woche machten David, Lucy und ich eine Tour durch ihre Weinberge, wanderten in der späten Nachmittagssonne zwischen den Rebstöcken den Hügel hinauf, vom Wein wie mit ausgestreckten Armen gegrüßt. Lucy liebte diesen Fleck Erde und genoss es, ihr Wissen über die vielen unterschiedlichen Phasen mit anderen zu teilen. Sie trug Arbeitsstiefel und einen breitkrempigen Hut. Beim Sprechen glitt ihre Hand sanft über Trauben und Stöcke.
»Die Reben des Pinot noir fangen gerade an, von Grün in Violettblau überzugehen. Wenn ihr genau hinseht, könnt ihr die unterschiedliche Farbintensität jeder einzelnen Traube erkennen. Sind sie nicht wunderschön?« Sie erzählte uns, dass dieser Prozess Véraison genannt wurde. In diesem Abschnitt des Vegetationszyklus wurden auch Blätter entfernt, um die Beschattung zu kontrollieren. »Je mehr Sonne meine Schönen bekommen, desto trockener und geschmackvoller werden sie. Im Herbst sind sie dann ganz prall und reif für die Ernte.« Sie sprach von
Terroir
, dem neuen Lieblingswort unter Winzern und Weinhändlern, über das ständig debattiert wurde.
»Terroir bezeichnet die Lage des Weins, die du dann beim Trinken erkennst. Dieser Hügel hat eine Geschichte.« Lucy streckte die Hand aus, als wolle sie die Reben segnen. »Es ist das Klima, sogar ein bestimmter Einfallswinkel der Sonne am Hang. Und der Boden – die vielen Schichten aus Gestein und Vulkanasche der vergangenen Millionen von Jahren. Das Ausgangsgestein wird aufgespalten, um den Boden zu dem zu machen, der er heute ist, mit seinen Mineralien, dem chemischen Gleichgewicht.«
»Bei mir ist das genauso«, sagte David. »Oh, Moment, bei mir ist es ein chemisches
Un
gleichgewicht. Entschuldige, erzähl weiter.«
Lucy rollte die Augen. »Wie gesagt … Terroir ist der Ausdruck für die Eigenheiten des Bodens, auf dem die Reben wachsen. Andere sagen, bei Terroir gehe es um den Weinanbau, den Einfluss auf die Reben – also die Art und Weise der manuellen Bearbeitung, die Sorte Fässer und den ganzen Prozess der Weinherstellung. Wieder andere sind der Meinung, Terroir bezeichne alles – das jahrtausendelange Geschehen vor Ort bis zu dem Moment, wo die Flasche entkorkt wird.«
»Ich fand immer«, sagte ich, »und das klingt jetzt wahrscheinlich seltsam, aber – dass Annie und Zach von diesem Ort hier, von Elbow, durchdrungen sind. Es
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