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Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeannette Walls
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zerteilte und das Fleisch eingeschweißt in die Kühltruhe im Keller packte, hatte er genug für ein ganzes Jahr. Also gab es abends meistens Wildragout mit so was wie Möhren, Zwiebeln, Tomaten und Kartoffelpüree mit Graupen. Das Fleisch war viel zäher als das Hühnerfleisch in den Pastetchen, und manchmal musste man kräftig kauen, um es runterzukriegen, aber es war auch viel würziger und leckerer.
    Dank Mr Muncie, dem siebenundachtzigjährigen Nachbarn, der die große Heuwiese mähte, musste Onkel Tinsley weder Eier noch Gemüse kaufen, und er machte warmen Brei aus Haferflocken, die er im Futtermittelladen bekam. Aber heranwachsende Mädchen, so fand er, brauchten Milch und Käse, und außerdem gingen allmählich so wichtige Zutaten wie Salz zur Neige, weshalb Onkel Tinsley am Ende unserer ersten Woche erklärte, es wäre Zeit, ein paar Lebensmittel zu kaufen. Wir stiegen alle in den Kombi mit der Holzverkleidung, den Onkel Tinsley Woody nannte. Wir hatten Mayfield seit dem Tag unserer Ankunft nicht verlassen, und ich brannte darauf, mir die Gegend anzusehen.
    Wir fuhren an der weißen Kirche und den paar Häusern vorbei, folgten der gewundenen Straße Richtung Byler, die von Maisfeldern und Weiden mit grasendem Vieh gesäumt wurde. Ich schaute aus dem Fenster, als wir an einem großen eingezäunten Feld vorbeikamen, und auf einmal sah ich zwei riesige vogelähnliche Geschöpfe. »Liz!«, rief ich. »Sieh mal da, diese irren Vögel!«
    Sie erinnerten mich an Hühner, nur dass sie so groß wie Ponys waren, mit langen Hälsen und Beinen und dunkelbraunem Gefieder. Sie bewegten sich mit ausladenden, bedächtigen Schritten, wobei ihre Köpfe wippten.
    »Was sind denn das für Vögel?«, fragte ich.
    Onkel Tinsley lachte sein leises, schnaubendes Lachen. »Das sind Scruggs’ Emus.«
    »Ein Emu ist doch so was Ähnliches wie ein Strauß, stimmt’s?«, sagte Liz.
    »So ungefähr.«
    »Sind das Haustiere?«, fragte ich.
    »Sollten sie eigentlich nicht sein. Scruggs dachte, er könnte mit ihnen ein bisschen Geld verdienen, ist aber nie dahintergekommen, wie er das anstellen soll. Und jetzt sind sie die hässlichsten Gartenornamente der Welt.«
    »Sie sind nicht hässlich«, sagte Liz.
    »Schau sie dir bei Gelegenheit mal aus der Nähe an.«
     
    Als wir in Byler ankamen, machte Onkel Tinsley mit uns eine Schnuppertour, wie er das nannte. Die Hauptstraße mit ihren großen grünen Bäumen hieß Holladay Avenue. Die Gebäude waren altmodisch, aus Ziegel- und Natursteinen. Manche hatten Säulen und Steinmetzverzierungen, an einem war eine große Uhr mit römischen Zahlen, und man hatte das Gefühl, dass Byler mal ein geschäftiges und blühendes Städtchen gewesen war, aber jetzt sah es so aus, als wäre hier seit fünfzig Jahren nichts Neues gebaut worden. Etliche Geschäfte standen leer, und die Schaufensterscheiben waren kreuz und quer mit Plastikband verklebt. An einer Tür hing ein Schild mit der Aufschrift BIN IN EINER HALBEN STUNDE ZURÜCK , als hätte der Ladenbesitzer fest vorgehabt zurückzukommen, es aber nie geschafft.
    Vielleicht lag es an der schwülen Luft, aber Byler kam mir ziemlich verschlafen vor. Die Leute schienen sich ausgesprochen langsam zu bewegen, und viele von ihnen bewegten sich praktisch überhaupt nicht, saßen bloß auf Stühlen unter Ladenmarkisen. Einige Männer in Overalls unterhielten sich, schnitzten, kauten Tabak und lasen Zeitung, oder sie hatten sich zurückgelehnt und dösten.
    »Welches Jahr haben wir hier?«, witzelte Liz.
    »In dieser Stadt haben die sechziger Jahre nie stattgefunden«, sagte Onkel Tinsley, »und den Leuten gefällt das.«
    Wir hielten an einer roten Ampel. Ein älterer Schwarzer mit Schlapphut trat vor uns auf die Straße. Als er mitten auf der Kreuzung war, sah er zu uns rüber, lächelte und tippte an seinen Hut. Onkel Tinsley winkte.
    »Wer ist das?«, fragte ich.
    »Kenn ich nicht«, sagte Onkel Tinsley.
    »Aber du hast ihm doch gewinkt.«
    »Winkt ihr nur Leuten, die ihr kennt? Dann müsst ihr aus Kalifornien sein.« Er prustete los.
    Die Baumwollweberei lag am Ende der Holladay Avenue, direkt am Fluss. Sie war aus dunkelroten Backsteinen erbaut, die bogen- und rautenförmige Muster bildeten, und nahm einen ganzen Häuserblock ein. Die Fenster waren zwei Stockwerke hoch, und Rauch quoll aus zwei himmelhohen Schornsteinen. Auf einem Schild an der Fassade stand: HOLLADAY TEXTILES .
    »Hat Charlotte euch viel von der Geschichte unserer Familie erzählt?«,

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