Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
mich neben sie.
»Ich möchte, dass Mom endlich anruft«, sagte ich. Ich hatte praktisch täglich damit gerechnet, von ihr zu hören. Ständig überprüfte ich, ob das Telefon auch eingestöpselt war, weil Onkel Tinsley nicht besonders gern angerufen wurde und manchmal den Stecker rauszog. »Onkel Tinsley denkt bestimmt, wir sind Schmarotzer.«
»Ich glaube, eigentlich gefällt es ihm, dass wir hier sind«, sagte Liz. Sie hielt ihr Buch hoch. »Wir sind wie freundliche Außerirdische auf Besuch von einem anderen Planeten.«
Tatsächlich hatte Onkel Tinsley in der ganzen Zeit, die wir jetzt bei ihm waren, kein einziges Mal Besuch bekommen. Er hatte so ein großes altmodisches Radio, aber er schien sich nicht sonderlich dafür zu interessieren, was in der Welt los war, denn er schaltete es nie ein. Fasziniert war er dagegen von Genealogie und Geologie. Er verbrachte die meiste Zeit in seiner Bibliothek, wo er an irgendwelche Historischen Gesellschaften im County schrieb, weil er beispielsweise Informationen zu den Holladays in Middleburg haben wollte, und seine sogenannten Archive durchging, Kisten mit zerbröselnden alten Briefen, verblassten Tagebüchern und vergilbten Zeitungsausschnitten, die sich in irgendeiner Weise auf die Holladays bezogen. Und er wusste wirklich alles über die Erde, ihre Gesteinsschichten, ihren Boden und ihr Grundwasser. Er studierte geologische Karten, führte Tests an Erdproben in kleinen Gläsern durch sowie an Gesteinsablagerungen und las wissenschaftliche Untersuchungen, aus denen er in den Artikeln zitierte, die er schrieb und gelegentlich veröffentlichte.
Liz blieb nach dem Aufwachen gern noch im Bett und las, ich dagegen wollte nichts wie raus aus den Federn und loslegen, also ging ich nach unten frühstücken. Onkel Tinsley war im Ballsaal, in der Hand eine Tasse Kaffee, und starrte durch die Verandatür nach draußen. »Ich hab gar nicht gemerkt, wie hoch das Gras gewachsen ist«, sagte er. »Ich glaube, es wird Zeit zu mähen.«
Nach dem Frühstück ging ich mit ihm zum Geräteschuppen. Drinnen stand ein vorsintflutlicher Traktor mit dem Schriftzug FARMALL auf der Seite und einer kleinen Trittstufe, um leichter auf den Sitz zu kommen, sowie einer leeren Farbdose über dem Auspuff, die verhindern sollte, dass irgendwelche Viecher reinkrochen, wie Onkel Tinsley erklärte. Er drehte den Zündschlüssel, und der Traktor röchelte, aber dann sprang er richtig an, und eine dicke schwarze Rauchwolke quoll unter der Farbdose hervor. Onkel Tinsley setzte zurück bis zu dem Schleppmäher, einem großen grünen Gerät, und ich half dabei, den Mäher hinten an den Traktor zu koppeln.
Während Onkel Tinsley mähte, nahm ich Schaufel und Harke und entfernte damit das Laub von dem Koi-Teich. Als ich überwucherte Ziegelsteinwege zwischen den alten Blumenbeeten entdeckte, fing ich an, das Unkraut aus den Fugen zu zupfen. Es war harte Arbeit – das nasse Laub war schwerer, als man meinen sollte, und das Unkraut war kratzig –, aber gegen Mittag hatte ich den Teich und die meisten Steine ringsherum schön sauber bekommen. Die Blumenbeete waren dagegen noch weit davon entfernt, irgendwann wieder Preise zu gewinnen.
Onkel Tinsley winkte mich zu sich. »Mal sehen, ob wir ein paar Pfirsiche zum Mittagessen finden.«
Er hob mich auf die kleine Trittstufe des Traktors und sagte gleichzeitig, so was sollte man eigentlich nicht machen, aber alle Farmkinder machten es andauernd, und so stand ich auf der Trittstufe und klammerte mich mit aller Kraft fest, während wir an der Scheune vorbei und den Hang hinauf zum Obstgarten fuhren. Der alte Farmall bebte so heftig, dass mir die Zähne klapperten und die Augäpfel hüpften.
Die Birnen und die Äpfel seien noch zu grün, sagte Onkel Tinsley, die würden erst im August oder September reif. Aber er hatte ein paar frühreife Pfirsiche, die man schon gut essen konnte. Das waren alte Sorten, vor Jahrhunderten speziell für das Klima in diesem County gezüchtet, und sie schmeckten ganz anders als das mehlige Styropor, das heutzutage in den Supermärkten als Obst verkauft wurde.
Unter den Pfirsichbäumen lagen schon Früchte auf dem Boden, und Bienen, Wespen und Schmetterlinge schwärmten umher und taten sich daran gütlich. Onkel Tinsley pflückte einen Pfirsich und gab ihn mir. Er war klein und rot, sehr flaumig und ganz warm von der Sonne. Als ich hineinbiss, fühlte es sich fast so an, als würde er in meinem Mund zerplatzen, so saftig war dieser
Weitere Kostenlose Bücher