Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
Pfirsich. Ich aß ihn gierig auf, und hinterher hatte ich von dem vielen Saft klebrige Finger und ein klebriges Kinn.
»Gigantisch«, sagte ich.
»Das nenn ich einen Pfirsich«, sagte Onkel Tinsley. »Einen Holladay-Pfirsich.«
Wir pflückten eine ganze Tüte voll Pfirsiche. Sie waren so unwiderstehlich, dass Liz und ich den ganzen Nachmittag über davon aßen, und am nächsten Morgen ging ich wieder zum Obstgarten, um Nachschub zu holen.
Die Pfirsichbäume waren hinter den Apfelbäumen, und als ich näher kam, sah ich, dass an einem die Äste mächtig schwankten. Nach ein paar weiteren Schritten begriff ich, dass irgendwer hinter dem Baum war – ein Junge – und so schnell er konnte einen Sack mit Pfirsichen füllte.
»He!«, schrie ich. »Was soll das?«
Der Junge, der etwa so alt war wie ich, sah zu mir rüber. Wir starrten uns einen Moment lang an. Er hatte ziemlich langes Haar, das ihm in die Stirn fiel, und Augen so dunkel wie Kaffee. Er trug kein Hemd, und seine sonnengebräunte Haut sah verschwitzt und verdreckt aus, als würde er halbwild herumlaufen. In einer Hand hielt er einen Pfirsich, und mir fiel auf, dass ein Stück von einem Finger fehlte.
»Was soll das?«, schrie ich wieder. »Das sind unsere Pfirsiche!«
Der Junge fuhr herum und rannte weg, den Sack in der Hand, mit fliegenden Armen und Beinen wie bei einem Sprinter.
»Halt!«, rief ich. »Dieb!«
Ich lief ein kurzes Stück hinter ihm her, aber er war schnell und hatte ordentlich Vorsprung, und ich wusste, dass ich ihn nicht einholen konnte. Ich war so wütend auf diesen verdreckten Lümmel, weil er unsere leckeren Pfirsiche geklaut hatte, dass ich einen vom Boden aufhob und ihm hinterherwarf. »Pfirsichdieb!«
Ich ging zurück zum Haus. Onkel Tinsley war in der Bibliothek und arbeitete an seinen Geologieunterlagen. Ich rechnete fest damit, dass er meine Empörung über diesen gemeinen Bengel, der unsere Pfirsiche klaute, teilen würde. Doch stattdessen schmunzelte er und fing an, mir Fragen zu stellen. Wie sah er aus? Wie groß war er? War mir vielleicht aufgefallen, dass ihm ein Stück von einem Finger fehlte?
»Ganz genau«, sagte ich. »Ist ihm wahrscheinlich abgehackt worden, weil er geklaut hat.«
»Das ist Joe Wyatt«, sagte Onkel Tinsley. »Der gehört zur Familie deines Vaters. Sein Vater ist der Bruder deines Vaters. Joe ist dein Cousin.«
Vor lauter Verblüffung setzte ich mich auf den Boden.
»Und er kann sich von mir aus ruhig ein paar Pfirsiche holen«, fügte er hinzu.
Mom sprach nicht gern über Liz’ Dad oder meinen Dad. Sie hatte uns bloß erzählt, dass sie den Dad von Liz, Shelton Stewart, auf dem College in Richmond kennengelernt hatte, dass sie nach einer stürmischen Liebesaffäre geheiratet hatten und die Hochzeit die aufwändigste gewesen war, die Byler seit Generationen erlebt hatte. Mom wurde praktisch sofort schwanger, aber sie musste schon bald einsehen, dass Shelton Stewart ein verlogener Schmarotzer war. Er stammte aus einer alteingesessenen, aber verarmten Familie in South Carolina, und er erwartete von Moms Eltern, dass sie ihn und Charlotte finanzierten, während er sich die Zeit mit Golfspielen und Moorhuhnjagd vertrieb. Moms Vater machte deutlich, dass das nicht in Frage kam, und so verließ Shelton Stewart Mom kurz nach Liz’ Geburt, und sie und Liz sahen ihn nie wieder.
Mein Dad, so hatte Mom uns erzählt, war ein junger Mann aus Byler. Er war eine Wucht, hatte unglaublich viel Energie, aber sie und er kamen aus verschiedenen Welten. Außerdem starb er, kurz bevor ich geboren wurde, bei einem Unfall in der Weberei. Und mehr erzählte sie nie über ihn.
»Du hast meinen Dad gekannt?«, fragte ich Onkel Tinsley.
»Ja, natürlich.«
Vor lauter Aufregung fing ich an, mir die Hände zu reiben. Ich hatte mir immer gewünscht, von meiner Mom mehr über meinen Dad zu erfahren, aber sie sagte, sie wollte nicht über ihn reden, und es wäre besser für uns beide, wenn wir die Vergangenheit ruhenließen. Mom hatte kein Foto von ihm, und sie verriet mir nicht mal seinen Namen. Ich hatte mich immer gefragt, wie mein Dad wohl ausgesehen hatte. Ich sah meiner Mom nicht ähnlich. Sah ich meinem Dad ähnlich? War er ein gutaussehender Mann gewesen? Lustig? Klug?
»Wie hieß er? Wie war er so?«, fragte ich.
»Charlie. Charlie Wyatt«, sagte Onkel Tinsley. »Er war ein vorlauter Kerl.« Er stockte und sah mich an. »Wollte deine Mutter heiraten, weißt du, aber sie hat ihn nie richtig ernst
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