Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
fragte Onkel Tinsley.
»Das war nicht gerade Moms Lieblingsthema«, sagte Liz.
Vor dem Bürgerkrieg, so erklärte Onkel Tinsley uns, hatte die Familie Holladay eine Baumwollplantage besessen.
»Eine Plantage?«, fragte ich. »Unsere Familie hatte Sklaven?«
»Ja, klar hatten wir welche.«
»Das hätte ich lieber nicht gewusst«, sagte Liz.
»Unsere Sklaven wurden immer gut behandelt«, sagte Onkel Tinsley. »Mein Ururgroßvater Montgomery Holladay betonte gern, dass er auch noch das letzte Stück Brot mit ihnen geteilt hätte, so wahr ihm Gott helfe.«
Ich schielte zu Liz hinüber, die die Augen verdrehte.
»Man muss nur weit genug zurückgehen«, fuhr Onkel Tinsley fort, »dann hat so ziemlich jede amerikanische Familie, die es sich leisten konnte, mal Sklaven besessen, und zwar nicht bloß im Süden. Benjamin Franklin hatte Sklaven.« Jedenfalls, so erzählte er, hätten die Yankees die gesamte Plantage im Krieg niedergebrannt, aber die Familie verstand noch immer was vom Baumwollgeschäft. Gleich nach dem Krieg fand Montgomery Holladay, dass es Quatsch war, die Baumwolle an die Fabriken im Norden zu schicken und die Yankees damit reich zu machen, also verkaufte er das Land und zog nach Byler, wo er mit dem Geld die Weberei baute.
Über Generationen hinweg habe der Familie Holladay die Baumwollweberei und so ziemlich die ganze Stadt gehört. Die Weberei war gut zu den Holladays, und im Gegenzug waren die Holladays gut zu den Arbeitern. Die Familie baute ihnen Häuser mit Innenklos und verteilte kostenlos das dazugehörige Klopapier. Außerdem verschenkten die Holladays zu Weihnachten Schinken, und sie finanzierten eine Baseballmannschaft, die sich die Holladay Hitters nannte. Die Arbeiter in der Weberei verdienten nicht viel, aber die meisten von ihnen waren kleine Farmer gewesen, ehe die Weberei aufmachte, und die Fabrikarbeit war für sie ein Schritt nach oben. Die Hauptsache aber war, dass sich alle in Byler, ob arm oder reich, als Teil einer großen Familie fühlten.
Vor etwa zehn Jahren habe die Lage sich plötzlich rapide verschlechtert, fuhr er fort. Ausländische Webereien fingen an, mit Niedrigangeboten die Preise zu drücken, und gleichzeitig begannen diese Agitatoren aus dem Norden, die Arbeiter aufzuhetzen, sie sollten für höhere Löhne streiken. Die Webereien im Süden machten auf einmal Verluste, und im Laufe der Jahre mussten immer mehr von ihnen dichtmachen.
Zu dieser Zeit, sagte Onkel Tinsley, habe sein Vater schon nicht mehr gelebt, und er selbst hatte die Leitung von Holladay Textiles übernommen, doch das Unternehmen steckte mittlerweile ebenfalls in den roten Zahlen. Irgendwelche Investoren aus Chicago machten für die Weberei ein Kaufangebot, das er akzeptierte, doch der Erlös reichte gerade für Martha und ihn, wenn sie sparsam lebten. Unterdessen nahmen die neuen Besitzer Entlassungen vor und taten, was sie nur konnten, um auch das letzte bisschen Profit aus dem Werk herauszupressen. Sie schafften nicht nur die Schinken zu Weihnachten und die Holladay Hitters ab, sondern strichen Toilettenpausen, schalteten die Klimaanlage aus und verwendeten schmutzige Baumwolle.
»Früher hat Holladay Textiles Qualitätsware produziert«, sagte Onkel Tinsley. »Heute werden da Handtücher hergestellt, durch die man Zeitung lesen kann, so dünn sind die.«
»Das klingt alles furchtbar deprimierend«, sagte Liz.
Onkel Tinsley zuckte die Achseln. »Es ist, wie es ist.«
»Hast du je daran gedacht, Byler zu verlassen?«, fragte ich. »Wie Mom?«
»Byler verlassen?«, fragte Onkel Tinsley. »Wieso sollte ich Byler verlassen? Ich bin ein Holladay. Ich gehör hierhin.«
7
I n Mayfield schliefen wir bei geöffneten Fenstern, und nachts konnte man die Frösche quaken hören. Ich nickte immer gleich ein, wenn ich mich hinlegte, aber diese lärmenden Vögel weckten mich jeden Tag in aller Herrgottsfrühe. Eines Morgens Ende Juni, als wir schon fast zwei Wochen in Mayfield waren, wachte ich auf und griff nach Liz, bis mir wieder einfiel, dass sie ja im Zimmer nebenan schlief. So gern ich mir mit ihr ein Bett teilte, ich hatte immer mal wieder gedacht, dass es nicht schlecht wäre, wenn ich ein Zimmer nur für mich allein hätte. Aber im Grunde fühlte ich mich jetzt einsam.
Ich ging rüber zu Liz, um nachzusehen, ob sie schon wach war. Sie saß aufrecht im Bett und las ein Buch mit dem Titel
Fremder in einer fremden Welt,
das ihr in die Hände gefallen war, als wir das Haus putzten. Ich legte
Weitere Kostenlose Bücher