Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
ob er mich umarmen würde, wie Tante Al das gemacht hatte. Aber er stand einfach bloß da und musterte mich argwöhnisch.
»Wo steckt deine Momma?«, fragte er.
»Die ist in Kalifornien geblieben«, sagte ich. »Wir sind nur zu Besuch hier.«
»Wollte also nicht herkommen, was? Hätte mich auch gewundert.« Onkel Clarence fing an zu husten.
»Nun sei nicht so knurrig, Clarence«, sagte Tante Al. »Los, setz dich hin und komm wieder zu Atem.« Onkel Clarence ging hustend aus der Küche.
»Mein Mann kann manchmal ein bisschen mürrisch sein«, erklärte Tante Al uns. »Er ist ein guter Kerl, aber er hat’s nicht leicht gehabt – ich meine, mit dem schlimmen Rücken und der weißen Lunge, die er von der Arbeit in der Weberei gekriegt hat –, und er ist wütend auf Gott und die Welt. Außerdem ist er ganz krank vor Sorge um Truman da drüben in Vietnam, aber das würde er nie zugeben. Wir haben drei Byler-Jungs im Krieg verloren, und ich bete jeden Abend für unseren Jungen und all die anderen Jungs da drüben. Aber genug davon, wie wär’s mit einem Stück Kuchen?«
Sie schnitt uns beiden je ein üppiges Stück ab. »Die besten Pfirsiche im ganzen County«, sagte sie verschmitzt.
»Und der Preis ist unschlagbar«, sagte ich.
Tante Al prustete wieder los. »Du passt prima zu uns, Bean.«
Wir setzten uns zu Earl an den Küchentisch und ließen uns den Kuchen schmecken, der wirklich unglaublich lecker war.
»Wie geht’s eurer Momma?«
»Es geht ihr gut«, sagte Liz.
»Die war schon seit Jahren nicht mehr in Byler, stimmt’s?«
»Nicht mehr, seit Bean noch ganz klein war«, sagte Liz.
»Kann nicht behaupten, dass ich ihr das verüble.«
»Hat mein Dad so ausgesehen wie Onkel Clarence?«, fragte ich.
»Die waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht, aber man konnte trotzdem sehen, dass sie Brüder sind. Hast du denn nie ein Bild von deinem Poppa gesehen?«
Ich schüttelte den Kopf.
Tante Al betrachtete das Geschirrtuch, das sie anscheinend immer bei sich hatte, und faltete es dann zu einem akkuraten Quadrat zusammen. »Ich werd dir was zeigen.« Sie ging aus der Küche und kam mit einem dicken Fotoalbum zurück. Sie setzte sich neben mich und fing an, es durchzublättern. Schließlich zeigte sie auf ein Schwarz-Weiß-Foto von einem jungen Mann, der mit verschränkten Armen und angewinkelter Hüfte an einem Türrahmen lehnte. »Das ist er«, sagte sie. »Charlie. Dein Daddy.«
Sie schob das Album zu mir rüber. Ich meinte, das Blut in meinem Kopf rauschen zu hören. Ich wollte das Foto berühren, merkte aber, dass meine Hände schweißnass vor Aufregung waren, also wischte ich sie an Tante Als Geschirrtuch ab. Dann beugte ich mich so weit vor, bis mein Gesicht ganz dicht an dem Foto war. Ich wollte meinen Dad genau sehen, selbst die kleinste Kleinigkeit.
Er trug ein enges weißes T-Shirt, und in einem hochgeklappten Ärmel steckte eine Packung Zigaretten. Er hatte sehnige Muskeln und dunkles Haar, genau wie meins, aber seins war mit Gel nach hinten gekämmt, wie die Leute das damals machten. Seine Augen waren dunkel, ebenfalls genau wie meine. Am auffälligsten fand ich sein schiefes Grinsen, als ob er die Welt auf seine ganz eigene Art sehen würde und seine helle Freude daran hätte.
»Er sah echt gut aus«, sagte ich.
»Oh ja, er war ein schöner Mann«, sagte Tante Al. »Die Frauen war ganz verrückt nach Charlie. Und das lag nicht bloß an seinem Aussehen. Eher an seinem sonnigen Gemüt.«
»Wie meinst du das?«
Tante Al beäugte mich. »Du weißt wirklich nicht viel über deinen Daddy, was, Herzchen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Charlie hat in der Fabrik die Webstühle repariert«, sagte Tante Al. »Er kriegte alles wieder zum Laufen. Das lag ihm einfach. Mit seiner Schulbildung war es nicht weit her, aber er war richtig schlau und ständig in Bewegung. Er musste immer was zu tun haben. Und wenn Charlie auf eine Party kam, ging die erst richtig los.
Du hast sein Temperament, glaube ich«, sagte Tante Al zu mir. »Aber Charlie Wyatt hatte auch eine unbeherrschte, wilde Seite«, fuhr sie fort. »Die lag in der Familie und kostete ihn letzten Endes das Leben.«
»Ich dachte, er wäre in der Weberei tödlich verunglückt«, sagte Liz. »Das hat Mom uns erzählt.«
Tante Al sah unschlüssig aus und überlegte einen Moment. »Nein, Schätzchen«, sagte sie schließlich an mich gewandt. »Dein Daddy wurde erschossen.«
»Was?«
»Kaltblütig abgeknallt vom Bruder des Mannes, den er
Weitere Kostenlose Bücher