Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
genommen.«
»Wieso nicht?«
»Für sie war Charlie bloß ein Techtelmechtel. Charlotte war ziemlich angegriffen, als dieser Tunichtgut von Liz’ Vater deutlich machte, dass er keinerlei Lust am Vatersein hatte. Während und nach der Scheidung war sie kaum zu bändigen und hatte ein paar Affären mit Männern, von denen unsere Eltern gar nichts hielten. Charlie war einer von ihnen. Sie hat nie daran gedacht, ihn zu heiraten. In ihren Augen war er bloß ein Fusselkopf, mehr nicht.«
»Was ist das?« Ich hatte das Wort schon mal von Mom gehört, wusste aber nicht, was es bedeutete.
»Jemand, der in der Weberei arbeitet. Wenn die Weber von der Arbeit kommen, sind sie voller Fusseln.«
Ich saß auf dem Boden und versuchte, das alles zu verdauen. Mein ganzes Leben lang hatte ich mehr über meinen Dad und seine Familie herausfinden wollen, und jetzt, wo ich endlich jemanden getroffen hatte, der mit ihm – und mit mir – verwandt war, hatte ich mich total bescheuert aufgeführt, ihn beschimpft und mit einem Pfirsich beworfen. Und er war kein Dieb. Wenn Onkel Tinsley nichts dagegen hatte, dass Joe Wyatt sich Pfirsiche pflückte, dann waren die ja gar nicht geklaut. Konnte man zumindest so sehen.
»Ich glaube, ich sollte mich bei Joe Wyatt entschuldigen«, sagte ich. »Und vielleicht die anderen Wyatts kennenlernen.«
»Keine schlechte Idee«, sagte Onkel Tinsley. »Das sind anständige Leute. Der Vater ist arbeitsunfähig und macht jetzt nicht mehr viel. Die Mutter arbeitet in der Nachtschicht in der Weberei. Sie ist diejenige, die die Familie zusammenhält.« Er kratzte sich am Kinn. »Wenn du willst, könnte ich dich hinfahren.«
Doch die Art, wie er das sagte, verriet mir, dass er zwar selbst den Vorschlag gemacht hatte, es aber eigentlich nicht gern tun wollte. Er war schließlich ein Holladay, der ehemalige Besitzer der Weberei. Er würde die Arbeiterfamilie des Mannes besuchen, von dem seine Schwester schwanger geworden war. Es wäre ihm peinlich, mich dort abzusetzen, ohne selbst mit reinzukommen, aber wahrscheinlich noch peinlicher, sich mit den Wyatts an einen Tisch zu setzen und bei einem Glas Limonade ein bisschen zu plaudern.
»Ich geh allein hin«, sagte ich. »Dann kann ich mir Byler auch mal in Ruhe zu Fuß anschauen.«
»Gute Idee«, sagte Onkel Tinsley. »Aber ich weiß was Besseres. Charlottes altes Fahrrad muss hier noch irgendwo rumstehen. Du könntest in die Stadt radeln.«
Ich ging rauf in den Vogeltrakt, um Liz von den Wyatts zu erzählen. Sie saß in einem Sessel am Fenster und las jetzt ein anderes Buch, das sie in Onkel Tinsleys Bibliothek entdeckt hatte. Es war von Edgar Allan Poe.
Nachdem ich ihr das mit den Wyatts erzählt hatte, sprang Liz auf und umarmte mich. »Du zitterst«, sagte sie.
»Ich weiß, ich weiß. Ich bin aufgeregt«, sagte ich. »Was, wenn das alles Spinner sind? Oder wenn sie denken, ich spinne?«
»Es wird alles gut. Soll ich mitkommen?«
»Würdest du?«
»Ja klar, Bean-Spleen, du Spinner. Wir halten zusammen.«
8
A m nächsten Morgen holte Onkel Tinsley Moms altes Kinderfahrrad hervor. Es stand im Geräteschuppen, wo er auch sein eigenes altes Rad entdeckte, aber das brauchte einen neuen Reifen, deshalb beschlossen Liz und ich, gemeinsam auf Moms Rad zu fahren.
Es war ein supertolles Schwinn-Rad. »Die gibt es schon lange nicht mehr«, sagte Onkel Tinsley. Es hatte einen schweren roten Rahmen, dicke Reifen, Katzenaugen in den Speichen, einen Tacho, eine Hupe und einen verchromten Gepäckträger hinter dem Sattel. Onkel Tinsley putzte es, pumpte die Reifen auf, ölte die Kette und zeichnete uns eine Karte von dem Teil der Stadt, wo die Wyatts wohnten. Die Gegend, so erklärte er, wurde Weberhügel genannt oder einfach nur der Hügel. Und dann machten wir uns auf den Weg zum Hügel, Liz radelte, und ich saß hinter ihr auf dem verchromten Gepäckträger.
Der Tag war heiß und schwül, der Himmel diesig, und der Gepäckträger war ganz schön hart für meinen Hintern, aber unterwegs kamen wir streckenweise durch kühlen Wald, wo die Äste der großen alten Bäume sich von beiden Seiten über die Straße reckten und eine Art Dach bildeten, und man hatte das Gefühl, als würde man durch einen Tunnel fahren, bei dem dann und wann Sonnenlichtkleckse zwischen den Blättern flimmerten.
Der Weberhügel lag im Nordteil der Stadt am Fuße eines hohen bewaldeten Berges, gleich hinter der Weberei. Die Häuser waren einheitliche Kästen, an denen vielfach die
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