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Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeannette Walls
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machen soll«, sagte Liz. »Ich kann nicht mehr klar denken. Bean, was meinst du?«
    »Die Sache ist die«, sagte ich, »wenn wir nicht wenigstens Anzeige erstatten, tun wir so, als wäre nichts passiert.«
    »Rechtlich gesehen stimmt das«, sagte Mr Corbin. »Falls ihr Anzeige erstattet, könnt ihr sie jederzeit wieder zurückziehen, aber ihr solltet bedenken, dass solche Sachen manchmal ein Eigenleben entwickeln.«
    »Also«, sagte ich, »wenn wir nicht so tun wollen, als wäre nichts passiert, und wenn wir nicht verschwinden und uns verstecken wollen, bleibt uns keine andere Wahl. Wir müssen ihn anzeigen.«
    Mr Corbin legte seine Büroklammer aus der Hand. »Bean Holladay, wie alt bist du?«
    »Zwölf. Im April werde ich dreizehn.«
    »Du bist ein bisschen zu jung, um so eine Entscheidung allein zu treffen. Falls ihr euch für diesen Weg entscheidet, muss euer Onkel ab sofort mit im Boot sein.«
    »Der wird wütend auf uns sein«, sagte ich.
    »Ich ruf ihn an.« Mr Corbin griff zum Telefon und wählte. »Tinsley«, sagte er, »Bill Corbin am Apparat.« Er erklärte, dass Liz und ich in seinem Büro saßen und dass wir beschlossen hatten, Jerry Maddox wegen des mutmaßlichen tätlichen Angriffs am Vorabend anzuzeigen. Er verstummte, lauschte und schüttelte dann den Kopf. »Nein, Sir. Das hab ich ihnen nicht empfohlen. Die beiden sind zu mir gekommen, ich habe ihnen die möglichen Alternativen aufgezeigt, und sie haben ihre Entscheidung getroffen.« Wieder lauschte er. Dann reichte er mir den Hörer. »Er will mit dir reden.«
    »Was zum Teufel macht ihr denn da?«, fragte Onkel Tinsley.
    »Wir zeigen ihn an«, sagte ich.
    »Ich dachte, ihr wolltet die Sache auf sich beruhen lassen.«
    »Dann denkt er, er kann’s wieder versuchen. Und was ist, wenn er das tut? Was sollen wir dann machen? Ihn einfach lassen? Uns vor ihm verstecken? Das geht nicht. Deshalb zeigen wir ihn an.«
    Am anderen Ende trat langes Schweigen ein.
    »Wir treffen uns auf der Polizeiwache.«
     
    Mr Corbin rief auf der Polizeiwache an und sagte, dass wir rüberkommen würden. Als ich ihn fragte, wie viel wir ihm schuldeten, sagte er, das erste Beratungsgespräch wäre unentgeltlich. Das hieß kostenlos, erklärte Liz.
    »Werden Sie dann unser Anwalt sein?«, fragte ich. »Unentgeltlich?«
    »Falls es zur Anklage kommt, wird der Staatsanwalt euer Anwalt«, erklärte Mr Corbin. »Mich braucht ihr dann nicht.«
    »Ach so«, sagte ich.
    Die Polizeiwache war in einem niedrigen Ziegelgebäude mit Flachdach untergebracht. Der Deputy am Empfang wirkte nicht besonders froh, uns zu sehen. Er rief einen anderen Deputy. Auch der blickte ziemlich ernst. Er ließ mich im Vorraum warten, während er mit Liz in einem Zimmer verschwand, um ihre Aussage aufzunehmen.
    Kurz darauf kam Onkel Tinsley herein. Er trug eines von seinen Tweed-Sakkos und einen grauen Filzhut. Er setzte sich neben mich auf einen der orangegelben Plastikstühle. Wir sagten nichts. Nach einer Weile hob er die Hand und zerzauste mir das Haar.
    Liz kam kurz darauf raus.
    »Wie ist es gelaufen?«, fragte ich.
    »Die haben ein paar Fotos gemacht und Fragen gestellt, und ich hab sie beantwortet, okay?«, sagte sie. »Fahren wir nach Hause.«

34
    A ls wir schließlich wieder in Mayfield ankamen, war  der Schultag schon halb vorbei. Onkel Tinsley sagte, nach allem, was geschehen sei, könnten wir auch einfach zu Hause bleiben und ein bisschen entspannen. Ein paar Stunden später hörten wir, dass ein Auto die Einfahrt hochgebraust kam. Ich ging zum Fenster und sah, wie Maddox’ schwarzer Le Mans eine Vollbremsung machte. Doris Maddox stieg aus, schwangerer denn je, und knallte die Tür zu. Liz war oben im Vogeltrakt, aber Onkel Tinsley und ich gingen raus, um mit Doris zu sprechen. Die kam schon Richtung Veranda gestakst.
    Einen Moment lang glaubte ich ernsthaft, Doris wäre gekommen, um sich für ihren Mann zu entschuldigen. Sie beklagte sich doch andauernd darüber, was für ein nichtsnutziger Mistkerl er war, einer, der andauernd fremdging, schrecklich aufbrausend war, mit allen und jedem in Streit geriet und sie nach Strich und Faden belog. Ich dachte, Doris würde so was sagen wie: »Hört mal, was mein Mann gemacht hat, war falsch, aber er sorgt für mich und meine Kinder, und wenn ihr diese Sache durchzieht, wird meine Familie darunter leiden.«
    Doch sobald ich Doris’ Gesicht sah, begriff ich, dass sie nicht gekommen war, um Schönwetter zu machen. Ihr Mund war verkniffen, und

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