Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
betrachten.
Ich strich mit dem Finger über den winzigen silbernen Stern in der Mitte des großen goldenen Sterns und überlegte, welchen Rat mein Dad mir wohl geben würde, wenn er noch am Leben wäre. Ich sah sein schiefes Grinsen, die kecke Art, wie er mit verschränkten Armen da am Türrahmen lehnte, und mir wurde klar, dass Charlie Wyatt eines niemals tun würde: Er würde niemals so tun, als wäre nichts passiert.
33
A m nächsten Morgen wurde ich vor Liz wach und ging nach unten, um ihr eine Tasse Tee zu machen. Onkel Tinsley hantierte in der Küche herum. Er war ausgesprochen redselig und erzählte, wie eisig die Nacht gewesen war und dass die Vögel, vor allem die Blauhäher, um diese Jahreszeit ständig in die Fenster flogen und mit den Köpfen gegen die Scheiben knallten. »Ich krieg immer einen Mordsschreck«, sagte er. »Aber sie erschrecken sich wahrscheinlich noch mehr. Manchmal flattern sie gleich wieder weg, aber manchmal werden sie auch von der Wucht des Aufpralls ohnmächtig.«
Onkel Tinsley hoffte offensichtlich, wenn er nicht über die Sache mit Maddox redete, würden wir sie einfach abhaken und weitermachen, als wäre nichts gewesen. Nachts im Bett hatte ich beschlossen, dass Liz und ich allerwenigstens mit einem Anwalt reden sollten. Ich verstand nicht viel von so Sachen wie Polizei und Gerichten, aber ich wusste, dass jeder einen Anwalt bekam, sogar der arme Schwarze in
Wer die Nachtigall stört.
Onkel Tinsley kannte bestimmt jeden Anwalt in der Stadt, aber da er ja die ganze Sache einfach vergessen wollte, hielt ich es für sinnlos, ihn zu fragen, wen er für gut hielt, oder ihm überhaupt von unserem Plan zu erzählen. Der Vater von Billy Corbin, einem Klassenkameraden von mir, war Anwalt. Den konnte ich im Telefonbuch nachschlagen.
Als ich Liz die Tasse Tee hochbrachte, war sie wach, lag aber noch im Bett. Ihr Gesicht war jetzt sogar verschwollener als am Abend vorher. »Ich geh nicht zur Schule, unter gar keinen Umständen«, sagte sie.
»Musst du auch nicht«, sagte ich. Ich reichte ihr die Tasse und erläuterte ihr meinen Plan, dass wir beide mit Billy Corbins Dad reden sollten.
»Wenn du meinst«, sagte Liz. Sie hörte sich wie benebelt an.
Ehe wir aus dem Haus gingen, versuchte ich noch einmal, Mom anzurufen. Sie redete dauernd davon, dass Frauen für ihre Rechte eintreten müssten, und sie würde ganz sicher wollen, dass wir Maddox anzeigten. Aber bei Mom konnte man nie wissen, wie sie reagieren würde. Ich ließ es lange klingeln, doch sie meldete sich noch immer nicht. Allmählich fragte ich mich, wo zum Kuckuck Mom steckte, denn sie war eigentlich keine Frühaufsteherin.
Anstatt mit dem Bus zur Schule zu fahren, gingen Liz und ich zu Fuß in die Stadt. Die Sonne war aufgegangen, und der Raureif schmolz bereits, doch an schattigen Stellen war das Gras noch weiß und steif. Wir kamen an den Emus vorbei, die auf der hinteren Seite ihres Geheges auf dem Boden herumpickten, aber wir blieben nicht stehen, um sie zu beobachten.
Als wir auf der Holladay Avenue waren, ging ich in eine Telefonzelle und nannte der Vermittlung Moms Nummer mit der Bitte um ein R-Gespräch. Wieder war sie nicht zu erreichen. Ich überlegte, ob wir auf den Hügel gehen und mit Tante Al reden sollten, aber die erteilte nicht gern Ratschläge. Und falls sie uns den Rat gab, Anzeige zu erstatten, und Mr Maddox davon erfuhr, könnte er ihr das Leben richtig schwer machen. So oder so, das Wichtigste war wohl, mit einem Anwalt zu sprechen.
Ich schlug Mr Corbins Anschrift in dem Telefonbuch nach, das an einer Kette hing. Seine Kanzlei lag über einem Schuhgeschäft. Eine wackelige Treppe führte zu seiner Bürotür, auf deren Milchglasscheibe die Worte WILLIAM T. CORBIN , RECHTSANWALT prangten. Die Tür war abgeschlossen. Wir klopften, aber es machte niemand auf.
»Dann warten wir eben«, sagte ich. Wir setzten uns auf die oberste Stufe. Nach einer Weile kam ein Mann mit zwei großen Aktentaschen die Treppe rauf. Er sah müde aus, hatte dunkle Ringe unter den Augen, und sein Anzug war zerknittert.
»Mr Corbin?«, fragte ich.
»Höchstpersönlich. Mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Ich bin Bean Holladay. Das ist meine Schwester Liz. Wir müssen mit Ihnen über eine rechtliche Angelegenheit reden.«
Er schmunzelte. »Lasst mich raten. Eure Mutter hat euch zu Hausarrest verdonnert, und ihr wollt, dass ich dagegen Berufung einlege.«
»Die Sache ist ernst«, sagte ich.
Er zog einen Schlüssel aus
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