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Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeannette Walls
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der ersten Seite, nicht mal auf der zweiten oder dritten. Schließlich fand ich sie ganz hinten, unter »Vermischtes«. Die Überschrift lautete »Weberei-Boss angezeigt«, und der Text war kurz und knapp:
    Jerry Maddox, 43 , Betriebsleiter bei Holladay Textiles, wird der tätliche Angriff auf eine fünfzehnjährige Schülerin der Byler High, deren Name aufgrund ihres Alters ungenannt bleibt, zur Last gelegt. Er ist gegen Kaution auf freiem Fuß. Ein Prozesstermin steht noch nicht fest.
    Ich war schockiert. Ich dachte, die Geschichte wäre ein Riesenskandal, auf jeden Fall bedeutender als eine Vierpfundtomate, schließlich ging es um eine Person, die in Byler ein hohes Tier war. Klar, die Leute redeten darüber, aber sie kannten die Wahrheit nicht. Ich hatte mich darauf verlassen, dass die ganze Stadt eine detaillierte offizielle Darstellung dessen zu lesen kriegen würde, was geschehen war. Ich hatte gedacht, das wäre eine Möglichkeit, Maddox in die Schranken zu weisen und dafür zu sorgen, dass er so was nie wieder tat.
    In dem Artikel war nicht mal die Rede von »versuchter Vergewaltigung«, als hätte die Redaktion sich gescheut, das abzudrucken. »Tätlicher Angriff« – was hieß das? Das konnte alles und nichts sein. Nach dem, was die Leute in der
Byler Daily News
zu lesen bekamen, konnte man meinen, Maddox hätte vielleicht nur ein Mädchen weggeschubst, das ihn wegen einer verbeulten Stoßstange beim Einparken frech angequatscht hatte.
    Der Rest des Tages war einfach nur schrecklich. Auf den Fluren starrten mich die Schüler an, sahen weg, sobald ich ihre Blicke auffing. Mädchen tuschelten und lachten und zeigten mit dem Finger. Jungs feixten und riefen mit spöttischen Piepsstimmen so Sachen wie »Hilfe! Hilfe! Er will mir an die Wäsche!«.
    Auf dem Weg zur Englischstunde begegnete ich Vanessa. Sie sah mich an und schüttelte den Kopf. »Vor Gericht gehen«, sagte sie. »Das ist so typisch für euch Weiße.«
    »Was würdest du denn machen?«, fragte ich.
    »Ich wäre vor allem gar nicht erst zu Mr Maddox in den Wagen gestiegen«, sagte sie. »Wenn du zu dem Boss auf die Rückbank steigst, musst du damit rechnen, dass so was passiert. Das ist einfach so.«
     
    Liz beschloss, auch am nächsten Tag nicht zur Schule zu gehen. Nein, sagte sie, sie würde das Haus nicht mehr verlassen, solange sie noch diese blauen Flecke im Gesicht hatte. Es war Freitag, der Tag nach dem Artikel, und die Lage auf den Schulfluren verschlechterte sich weiter. Hinter meinem Rücken wurde gekichert, ich bekam Papierkügelchen an den Kopf geworfen, und man stellte mir ein Bein.
    Am Abend spielten die Bulldogs gegen die Orange Hornets. Ich hatte dem Pep-Team in dieser Woche nicht viel genützt, und Liz war überhaupt nicht in der Stimmung gewesen, sich irgendwelche eingängigen Reime oder Wortspiele auszudenken. Anfang der Woche hatte ich mir »Orange, seid ihr bange?« aus den Fingern gesogen, aber Terri Pruitt, die Leiterin des Pep-Teams, meinte, das klänge wie gewollt und nicht gekonnt. Trotzdem malten wir Plakate – aber der Slogan lautete: »Hetzt die Hornets« –, und am Freitag versammelte sich die ganze Schule in der Turnhalle, um sich bei der Pep Rally vor dem Spiel in Stimmung bringen zu lassen.
    Als Vanessa und ich dran waren, die Siebtklässler anzufeuern, damit unsere Klasse den Spirit Stick gewann, stellten wir uns vor den Rängen auf und fingen an, die Arme zu schwenken. Die Zuschauer reagierten gar nicht. Die meisten saßen einfach nur da und glotzten, als könnten sie es nicht fassen, dass ich die Stirn hatte, mich da hinzustellen. Ich versuchte weiter, sie aus ihrer Lethargie zu reißen, und ein paar von ihnen klatschten schließlich halbherzig, aber dann ertönte ein Buhruf, gefolgt von einigen weiteren. Dann kam der erste Müll geflogen – Papierkügelchen, eine Popcorn-Tüte, Pennys, eine Rolle Pfefferminz. Ich schielte zu Vanessa hinüber. Sie ließ sich nicht irritieren, zeigte den gleichen stählernen Gesichtsausdruck, den ich auch bei ihrer Schwester gesehen hatte, als sie während des Footballspiels den Cola-Becher abbekam. Ich versuchte, mir an Vanessa ein Beispiel zu nehmen, die Wurfgeschosse und Buhrufe zu ignorieren, aber die Menge wurde immer lauter, und das Klatschen erstarb völlig. Da merkte ich, dass es sinnlos war weiterzumachen. Ich ging weg, ließ Vanessa allein die Arme schwenken und die Fäuste in die Luft recken.
    Terri Pruitt stand neben der Tür. »Alles klar, Bean?«, fragte

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