Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
Geschichte Wort für Wort glaube«, sagte sie zu Liz. Die ganze Stadt redete über die Anzeige, fuhr sie fort. »Viele Leute glauben dir – aber es gibt auch viele, die das nicht tun.« Die Krux war bloß, dass die meisten von denen, die Liz glaubten, das nicht offen sagen würden. Sie waren gute Menschen, sagte Tante Al, aber sie hatten Angst. Sie konnten es sich nicht leisten, ihre Arbeit zu verlieren, und sie wollten sich nicht offen gegen Jerry Maddox stellen. Aber sie waren mächtig froh, dass jemand anders ihm Paroli bot. »Du bist ein mutiges Mädchen.«
»Oder verrückt«, sagte Liz.
»Das ist nicht verrückt«, sagte ich. »Verrückt wäre, so zu tun, als wäre nichts passiert.«
Tante Al tätschelte meinen Arm. »Kindchen, in dir steckt eine gehörige Portion von deinem Dad.«
Joe kam mit zwei leeren Mehlsäcken in die Küche. »Hol noch einen Sack für Liz«, sagte Tante Al. »Und weißt du, was? Bring mir auch einen mit. Ich komm ja fast nur noch aus dem Haus, um in der verflixten Weberei zu schuften.«
Joe nahm Earl auf die Schultern und führte uns einen Pfad durch den Wald hinter dem Haus der Wyatts hoch. Zuerst war der Boden mit dichtem Gestrüpp bedeckt, aber als wir tiefer in den Wald kamen, lichtete sich der Weg. Das Laub war größtenteils von den Bäumen gefallen, die Sonne schimmerte zwischen den nackten Ästen hindurch, und man konnte die toten Stämme und abgebrochenen Zweige und dicken Ranken sehen, die sich bis hoch ins Geäst wanden.
Für eine Frau, die die meiste Zeit in der Küche oder in der Weberei verbrachte, bewegte sich Tante Al, als wäre sie im Wald zu Hause. Sie preschte den Pfad hoch wie ein Kind auf Entdeckungstour. Als kleines Mädchen habe sie für ihr Leben gern Esskastanien gesammelt, erzählte sie uns. Die Farm ihrer Eltern lag am Rand eines Waldes, der voller Kastanienbäume war, und manche von ihnen waren so dick, dass sogar drei erwachsene Männer mit ausgestreckten Armen den Stamm nicht ganz umfassen konnten. Ein großer Baum stand direkt neben dem Haus, und sobald der erste Frost kam, prasselten die Früchte nur so herunter, und es hörte sich an wie ein Regenguss auf einem Blechdach. Sie und ihre zehn Geschwister sprangen in aller Frühe aus dem Bett, um Kastanien zu sammeln, die sie in der Stadt verkauften, und von dem Geld kauften sie sich Sachen wie Schuhe und Kattun.
In den dreißiger Jahren, als sie etwa acht Jahre alt war, befiel der Rindenkrebs, der aus China gekommen war, auch die Kastanienbäume in ihrer Gegend. Schon wenige Jahre später waren die Baumriesen nur noch düstere tote Kolosse. »Die Leute meinten, es sah aus wie das Ende der Welt, und in gewisser Weise war es das auch«, sagte sie. Die wilden Truthähne und die Hirsche, die die Kastanien fraßen, verschwanden, und die Familien, die auf die Jagd und auf den Verkauf der Kastanien angewiesen waren, mussten ihre Farmen aufgeben. Sie zogen in Städte wie Byler und nahmen Jobs in den Webereien an.
»Nur ganz wenige Kastanienbäume haben überlebt«, sagte Tante Al. »Joe weiß, wo noch ein paar stehen, aber er zeigt sie fast niemandem.«
»Man muss sie in Ruhe lassen«, sagte Joe.
Nach einer Weile wurde der Pfad richtig steil. Bei einem alten Traktorreifen, der auf dem Boden lag, bogen wir von dem Pfad ab und schoben uns durchs Geäst. Einige Minuten später zeigte Joe auf einen Baum mit dunkler Rinde. Er hatte zwei gerade Stämme, die weit in die Höhe ragten, und an den Zweigen hingen noch einige gelb gewordene, gezahnte Blätter.
»Als Joe mir den Baum da zum ersten Mal gezeigt hat«, sagte Tante Al, »ich schwöre bei Gott, ich bin auf die Knie gefallen und hab geweint wie ein kleines Kind.«
Joe setzte Earl am Fuß des Baumes auf einen umgestürzten Stamm, hob eine stachelige Kastanienhülle auf und hielt sie mir hin. Sie wog fast nichts. Er zeigte auf einen rostfarbenen Fleck in der Rinde des Baumes, etwa so groß wie eine Untertasse. »Sie hat den Krebs, aber er hat sie noch nicht umgebracht«, sagte er. Er zeigte uns auch vier kleinere Kastanienbäume und ein paar Jungbäume, die aus einem alten Stumpf herauswuchsen. »Ich glaube, die kommen allmählich dahinter, wie sie den Krebs besiegen.«
»Hiob, Kapitel vierzehn, Vers sieben«, sagte Tante Al. »›Denn ein Baum hat Hoffnung, auch wenn er abgehauen ist; er kann wieder ausschlagen, und seine Schösslinge bleiben nicht aus.‹«
Ich schaute zu Liz hinüber. Sie starrte an den Zwillingsstämmen der großen Kastanie
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