Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
gesagt.«
Ruth hatte ihre Katzenaugenbrille abgenommen und spielte damit rum. »Ich wollte nicht, dass je einer davon erfährt.«
43
M ittlerweile zeichnete sich ab, dass Mom mal wieder abgetaucht war. Seit wir Anzeige erstattet hatten, versuchte ich ständig, sie in New York anzurufen, aber das Telefon klingelte und klingelte, und niemand meldete sich. Ich hatte es frühmorgens, nachmittags und spätabends versucht, aber immer vergeblich.
Endlich, nachdem vier Wochen vergangen waren, rief Mom an. Sie war in einer Art buddhistischem Kloster in den Catskills gewesen. War ganz spontan mit ein paar neuen Freunden hingefahren. Sie hatte vor ihrer Abreise versucht, uns anzurufen, war aber nicht durchgekommen, wahrscheinlich, weil Tin mal wieder das Telefon ausgestöpselt hatte. Dann war sie länger als geplant in dem Kloster geblieben, und da die Buddhisten kein Telefon besaßen, hatte sie sich nicht melden können.
»Das hat mir geistig unheimlich gutgetan«, sagte sie. »Ich fühle mich total ausgeglichen.« Dann schwärmte sie davon, was ihr die Buddhisten über ihr Qi beigebracht hatten, wie sie es zentrieren könnte, aber ich fiel ihr ins Wort.
»Mom, es ist was passiert«, sagte ich. »Ein Mann hat Liz angegriffen. Es wird einen Gerichtsprozess geben.«
Mom stieß einen Schrei aus. Sie wollte Einzelheiten wissen, und während ich ihr alles erzählte, schrie sie immer wieder dazwischen. »Was?«, »Wie kann er es wagen?«, »Meine Mädchen! Meine Babys!« und »Ich bring ihn um!« Sie würde sofort aufbrechen, sagte sie, und die Nacht durchfahren, damit sie am nächsten Morgen in Mayfield wäre. »Damit ist mein ganzes schönes Qi zum Teufel«, schob sie nach.
Mom schaffte es nicht bis Byler, ehe wir am nächsten Morgen zum Schulbus mussten, aber als wir zurückkamen, war sie schon eine Weile da, und das war gut so, denn Onkel Tinsley hatte Zeit gehabt, ihr die Einzelheiten zu erklären, sodass Liz das alles nicht noch mal durchkauen musste. Mom umarmte sie. Liz wollte gar nicht mehr loslassen, und Mom hielt sie weiter fest, streichelte ihr Haar und sagte: »Es wird alles wieder gut, Baby. Momma ist ja da.«
Dann wollte Mom mich umarmen. Ich war über mich selbst überrascht, wie wütend ich auf sie war. »Wo warst du die ganze Zeit?«, wollte ich sagen. Aber ich sagte nichts und umarmte sie zurück. Mom fing an, ihr Gesicht an meiner Schulter zu reiben. Ich spürte etwas Nasses und merkte, dass sie weinte und es verbergen wollte. Ich fragte mich, ob Mom uns tatsächlich dabei helfen würde, die Sache durchzustehen, oder ob sie nicht bloß noch eine Person mehr sein würde, die Beistand brauchte.
Als Liz ihr erzählte, wie die Kinder in der Schule sie behandelten, sagte Mom, Liz müsste nicht mehr hingehen, zumindest nicht, bis der Prozess vorüber wäre. Mom würde sie zu Hause unterrichten.
Sie bot an, auch mich zu Hause zu unterrichten, aber ich lehnte dankend ab. Die meisten Kinder hatten aufgehört, mich zu piesacken, und außerdem hatte ich nun wirklich keine Lust, den ganzen Tag in Mayfield rumzuhocken, an Maddox zu denken, mir anzuhören, wie Mom uns ihre Sicht der Welt erklärte, und einen Haufen depressive Gedichte von Edgar Allan Poe zu lesen. Der hatte bei Liz nämlich Lewis Carroll verdrängt, der bisher ihr Lieblingsautor war. Ich musste einfach raus.
Da Liz und ich uns wieder ein Zimmer teilten, bezog Mom das andere Zimmer im Vogeltrakt, das in ihrer Kindheit ihr Spielzimmer gewesen war. Als sie der Schulleitung der Byler High erklärte, sie würde Liz bis auf weiteres selbst unterrichten, akzeptierte die das mit Kusshand, weil der bevorstehende Prozess in der Schule bloß für Spannungen gesorgt hatte. Mom vermied jeden Streit mit Onkel Tinsley und verbrachte die Tage mit Liz. Die beiden schrieben Tagebuch und sprachen über Transzendenz, Überleben und Lebensenergie, all die Themen, mit denen Mom sich in dem buddhistischen Kloster befasst hatte. Liz klammerte sich an Mum und an das, was sie sagte, und Mom genoss es sichtlich, dass sich jemand an sie klammerte. Sie verfassten gemeinsam Gedichte, und die eine führte die Sätze der anderen zu Ende. Mom hatte ihre beiden Lieblingsgitarren mitgebracht – die Zemaitis und die honigfarbene Martin. Sie schenkte Liz die Martin und versprach ihr, sie nie wieder zu kritisieren, ganz gleich, wie viele Regeln sie beim Gitarrenspiel brach.
Ich war sauer auf Mom gewesen, als sie ankam, aber sie schien der Situation gewachsen zu sein. Liz
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