Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeannette Walls
Vom Netzwerk:
erzählte ihr von den Stimmen, die sie nach wie vor hörte. Sie hörte sie jetzt häufiger, und sie wurden unheimlicher. »Wenn die Stimmen real sind, hab ich ein Problem«, sagte Liz. »Wenn sie nicht real sind, hab ich ein noch größeres Problem.« Sie hatte Angst, Mom würde sie zu einem Psychiater schleifen, und der würde sie in eine Irrenanstalt einweisen, doch stattdessen sagte Mom, Liz solle sich nicht vor den Stimmen fürchten. Auf diese Weise sprächen der Verstand und die Seele miteinander, erklärte sie. Wenn man mit sich selbst im Streit liege, meldeten sich Stimmen. Wenn das Gewissen einem sagte, dass irgendwas keine gute Idee sei, war es eine Stimme. Wenn die Muse dir Verse ins Ohr raunte, war sie eine Stimme. Jeder höre Stimmen, sagte Mom. Manche von uns hörten die Stimmen einfach nur deutlicher als andere. Liz sollte den Stimmen lauschen, sie bündeln und in Kunst, Poesie und Musik umwandeln. »Hab keine Angst vor den dunklen Seiten in dir«, sagte Mom. »Wenn du Licht in das Dunkel bringen kannst, wirst du dort Kostbarkeiten finden.«

44
    M om hatte um Weihnachten nie viel Aufhebens gemacht und uns jedes Jahr erzählt, es wäre ein heidnisches Fest, das die Christen sich unter den Nagel gerissen hatten, und dass Jesus in Wahrheit im Frühling geboren worden war. Onkel Tinsley sagte, seit Marthas Tod hätte er es einfach ignoriert, aber zu Beginn der Weihnachtsferien erklärte er, wir sollten die Feiertage doch irgendwie begehen, weil es zum ersten Mal seit Jahren wieder so was wie ein Familienfest in Mayfield geben würde. Onkel Tinsley und ich suchten eine kleine, perfekt geformte Zeder am Rand der oberen Wiese aus. Wir fällten sie mit dem Beil, schleiften sie zurück zum Haus und behängten sie mit dem zarten alten Weihnachtsbaumschmuck aus dem Familienbestand der Holladays. Onkel Tinsley sagte, einige der Anhänger stammten aus den 1880 er Jahren.
    Wir vermieden es, über den Prozess zu reden, Mom und Onkel Tinsley gaben sich alle Mühe, nicht zu streiten, und Mom schlug vor, dass wir uns am Weihnachtstag nicht beschenken sollten, sondern dass stattdessen jeder etwas vorführen musste. Sie sang einige Nummern aus »Magische Entdeckungen« und wollte gar nicht mehr aufhören, da sie nach jedem Stück sagte: »Okay, wenn ihr darauf besteht, sing ich noch eins.« Liz sagte Poes Gedicht »Die Glocken« auf, das trotz seines Titels nicht besonders weihnachtlich war, sondern sogar ziemlich gruselig. Ich las mein Negrophobie-Referat vor und dachte diesmal auch daran, die von Onkel Tinsley empfohlenen Kunstpausen einzulegen. Daraufhin witzelte Mom, Onkel Tinsley sollte das alte Konföderiertenschwert hervorkramen, das die Holladays von Generation zu Generation vererbt hatten, und es mir überreichen, weil ich offenbar dabei wäre, meine Südstaatenwurzeln zu entdecken.
    »Dieser ganze Konföderiertenkult hier in der Stadt ist mir unheimlich«, sagte Liz. »Ein Haus auf dem Hügel hat sogar die alte Fahne gehisst.«
    »Es geht nicht um Sklaverei«, sagte Onkel Tinsley. »Es geht um Tradition und Ehre.«
    »Die Schwarzen sehen das vermutlich anders«, sagte Mom.
    »Onkel Tinsley«, sagte ich. »Du könntest uns doch was auf dem Klavier vorspielen.«
    Er schüttelte den Kopf. »Martha und ich haben oft zusammen gespielt«, sagte er. »Aber ich spiele nicht mehr.« Er stand auf. »Meine Vorführung heute Abend beschränkt sich auf die Küche.« Er würde zum Abendessen Kürbisauflauf nach einem alten Holladay-Familienrezept machen und dazu einen geschmorten Hirschrücken mit Pilzen, Zwiebeln, Rüben und Äpfeln.
    Als es dunkel wurde, deckten Liz und ich den Tisch. Mom holte eine Flasche Wein aus dem Keller. Sie goss für sich und Onkel Tinsley je ein Glas ein, für Liz ein halbes und für mich ein Viertel. In Kalifornien hatte Mom abends gern ein bisschen Wein getrunken und mich auch mal daran nippen lassen, aber jetzt bekam ich zum ersten Mal ein eigenes Glas.
    Onkel Tinsley sprach ein kurzes Tischgebet, dankte Gott für das üppige Festmahl und hob dann sein Glas. »Auf die Holladays.«
    Mom lächelte süffisant, und ich dachte schon, sie würde irgendwas Sarkastisches sagen, doch dann wurde ihr Gesichtsausdruck weicher. »Ist schon komisch«, sagte sie. »Die Holladays waren mal so groß und bedeutend.« Sie hob ihr Glas. »Auf uns vier«, sagte sie. »Wir sind der klägliche Rest.«
     
    Liz ließ sich den ganzen Winter zu Hause von Mom unterrichten, die ihre Aufgabe als Lehrerin sehr ernst nahm.

Weitere Kostenlose Bücher