Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
Mom und Liz lasen Hermann Hesse und e.e. cummings und jemanden namens Gurdjieff, von dem sie in dem Kloster gehört hatte. Mom ließ sich einen ganzen Unterrichtsplan zu Edgar Allan Poe einfallen. Liz mochte besonders Gedichte wie »Annabel Lee«, »Der Rabe« und »Die Glocken«, mit Zeilen wie »Jedes Rauschen der Gardinen, die mir wie Gespenster schienen« und »Tanzt im Takt, Takt, Takt, vom Runenreim gepackt«. Das Wort »Runenreim« fand sie dermaßen faszinierend, dass sie einen ganzen Aufsatz über Herkunft und Geschichte der Runen schrieb.
Onkel Tinsley arbeitete an seinem Geologie-Artikel und den Ahnentafeln und ging gelegentlich auf die Jagd. Wenn er erfolgreich gewesen war, kam er mit einem Stück erlegtem Wild zurück, das er auf die Motorhaube des Woody gebunden hatte. Außerdem half er bei Liz’ Unterricht und hielt ihr Vorträge über Arithmetik, die Geologie des Culpeper-Beckens und die Zusammensetzung der gelblichen Tonerde von Virginia. Er erklärte ihr C. Vann Woodward und warum der Bürgerkrieg eigentlich nicht als Bürgerkrieg bezeichnet werden sollte – »schließlich haben ja nicht die Bürger gekämpft« –, sondern stattdessen als »Krieg zwischen den Staaten«.
Maddox versuchte weiter, mich mit dem Le Mans, der neue Weißwandreifen hatte, über den Haufen zu fahren, aber weil Liz ja nie mit mir unterwegs war, hörte ich auf, ständig an ihn zu denken, und fing an, die Schule ein bisschen mehr zu genießen. Miss Jarvis, die nicht nur meine Englischlehrerin, sondern auch Jahrbuch-Beraterin war, überredete mich, bei der Redaktion mitzumachen, was mir mehr Spaß bereitete, als ich gedacht hatte – auf jeden Fall mehr Spaß als das Pep-Team. Es war auch eine Menge Arbeit. Wir mussten Fotos machen, Bildunterschriften dazu schreiben und Werbung verkaufen, eine Gedenkseite für den Zwölftklässler gestalten, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen war – Miss Jarvis sagte, so was passiere fast jedes Jahr –, und uns Motive für die Schnappschüsse einfallen lassen, wie »Erwischt!« und »Tanzen will gelernt sein«.
Allmählich gewöhnten sich alle daran, dass Byler High nun eine integrierte Schule war. Die Footballmannschaft spielte eine schreckliche Saison, und es kam noch immer gelegentlich zu Prügeleien zwischen schwarzen und weißen Schülern, aber die Basketballmannschaft schnitt besser ab, seit ein paar richtig große Schwarze mitspielten. Einer war so groß und kräftig, dass er Tyrone »Tower« Perry genannt wurde oder einfach nur Tower, und wir widmeten ihm eine ganze Seite im Jahrbuch, weil er so ein guter Spieler war. Auch die Cheerleaderinnen traten jetzt mehr und mehr wie ein Team auf: Die schwarzen Mädchen tanzten ein bisschen weniger und die weißen Mädchen ein bisschen mehr. Vanessas Mutter, die einen Schönheitssalon für schwarze Frauen betrieb und Avon-Kosmetika verkaufte, hatte einen taubenblauen Cadillac, und sie fuhr nun eine Gruppe von weißen und schwarzen Cheerleaderinnen, zu denen auch Ruth gehörte, zu den Auswärtsspielen.
Da Liz und Mom zu Hause immerzu mit Lernen beschäftigt waren, verbrachte ich mehr und mehr Zeit bei den Wyatts. Die Tracht Prügel hatte Joe stark verändert. Er zog sich in sich selbst zurück und redete noch weniger als vorher. Aber dann kam Dog.
Joe hatte sich schon immer einen Hund gewünscht. Für Onkel Clarence war ein Hund, der weder jagte noch Schafe hütete und bloß rumsaß und Hundefutter fraß, reine Geldverschwendung. Aber nachdem er Joe geschlagen hatte, überredete Tante Al ihn, Joe einen Hund zu schenken. Sie sagte, sie könnte das Tier mit Essensresten füttern. Wir gingen alle gemeinsam zum Tierheim, wo Joe sich einen schwarz-weißen Hund aussuchte. Tante Al meinte, er wäre ein interessanter Mix: ein bisschen Border Collie, wahrscheinlich etwas Jagdhund und vielleicht eine Prise Terrier. Joe bezeichnete ihn als reinrassige Promenadenmischung und nannte ihn Dog.
»Du hast Glück«, sagte ich zu Joe. »Ich hätte auch gern einen Hund.«
»Wir können ihn uns teilen«, sagte Joe.
Dog war ein pfiffiger kleiner Frechdachs, der Joe auf Schritt und Tritt folgte. Er begleitete ihn jeden Morgen zur Bushaltestelle, und wenn Joe nachmittags aus dem Bus stieg, saß Dog bei jedem Wetter da und wartete auf ihn. Der kleine Köter tat Joe richtig gut.
In diesem Winter schneite es sogar einige Male, und Joe und ich lieferten uns ein paar wilde Schneeballschlachten mit den anderen Kindern vom Weberhügel. Aber
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