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Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeannette Walls
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brauchtet ihr Mädchen denn Geld? Haben eure Eltern nicht für euch gesorgt?«
    »Viele Kinder arbeiten«, sagte ich.
    »Bitte beantworte die Frage. Sorgen eure Eltern für euch?«
    »Ich hab bloß meine Mutter. Mein Dad ist tot.«
    »Das tut mir leid. Muss schwer sein, ohne Dad aufzuwachsen. Wie ist er gestorben?«
    Dickey Bryson stand auf. »Einspruch«, sagte er. »Unerheblich.«
    »Stattgegeben«, sagte der Richter.
    Ich sah zu den Geschworenen rüber. Ein leises Lächeln lag auf Tammy Elberts Gesicht. Sie wusste, dass mein Dad getötet worden war. Sie alle wussten das. Und sie wussten auch, dass er nicht mit Mom verheiratet gewesen war.
    »Ihr lebt derzeit bei eurem Onkel, nicht wahr?«
    »Ja, Sir.«
    »Warum? Weil eure Momma nicht für euch sorgen kann?«
    »Einspruch«, sagte Dickey Bryson. »Unerheblich.«
    »Das sehe ich anders, Euer Ehren«, sagte Leland Hayes. »Es geht darum, Motivation und Charakter zu hinterfragen. Das ist der Kern unserer Verteidigung.«
    »Einspruch abgelehnt«, sagte der Richter.
    »Also, warum wohnt ihr nicht bei eurer Momma?«
    Ich schaute zu Mom hinüber. Sie saß sehr gerade da, die Lippen zusammengepresst. »Das ist ein bisschen kompliziert«, sagte ich.
    »Du scheinst mir eine sehr aufgeweckte junge Dame zu sein. Ich bin sicher, du kannst den Geschworenen etwas erklären, das ein bisschen kompliziert ist.«
    »Mom musste ein paar Sachen erledigen, und deshalb haben wir beschlossen, Onkel Tinsley zu besuchen.«
    »Sachen? Was für Sachen?«
    »Persönliche Sachen.«
    »Kannst du ein bisschen genauer werden?«
    Wieder sah ich kurz zu Mom hinüber. Sie sah aus, als würde sie gleich platzen. Ich wandte mich an den Richter. »Muss ich darauf antworten?«, fragte ich.
    »Ich fürchte, ja«, sagte der Richter.
    »Aber das ist sehr persönlich.«
    »Bei einem Gerichtsprozess kommen oft persönliche Dinge zur Sprache.«
    »Na ja« – ich holte tief Luft –, »Mom hatte so was wie einen Nervenzusammenbruch, und sie brauchte mal Zeit für sich allein, um sich über so einiges klarzuwerden, und deshalb haben wir beschlossen, Onkel Tinsley zu besuchen.«
    »Ihr beide seid also ganz allein nach Virginia gekommen. Den ganzen weiten Weg von Kalifornien bis hierher. Wusste eure Momma das?«
    »Nicht so richtig.«
    »Sehr mutig von euch. Hatte eure Momma das vorher schon mal gemacht? Euch allein gelassen?«
    »Immer nur ganz kurz. Und sie hat immer dafür gesorgt, dass wir genug Hühnerpastetchen als Proviant hatten.«
    »Na, das war sehr umsichtig von ihr.« Leland Hayes warf einen Blick zur Geschworenenbank. Tammy Elbert hatte sich umgedreht und sah Mom an, deren Gesicht fast so rot war wie ihre Samtjacke.
    »Eure Mutter ist Künstlerin, wie ich höre?«
    »Sängerin und Songschreiberin.«
    »Und Künstler haben viel Phantasie, nicht wahr?«
    »Ich glaub schon.«
    »Lässt eure Mutter ihrer Phantasie manchmal freien Lauf?«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Hat sie zum Beispiel mal einen Freund erfunden, den es gar nicht gab?«
    »Einspruch!«, rief Dickey Bryson. »Unerheblich.«
    Mom sah die Geschworenen an und schüttelte wie wild den Kopf.
    »Ich ziehe die Frage zurück.« Leland Hayes räusperte sich. »Als eure Mutter den Nervenzusammenbruch hatte, wart ihr plötzlich auf euch allein gestellt. Das ist hart. Ihr musstet also wirklich alles tun, um irgendwie über die Runden zu kommen. Sogar lügen, wenn es sein musste.«
    »Einspruch. Spekulativ.«
    »Stattgegeben.«
    »Ich will es mal anders formulieren. Habt ihr je lügen müssen, um über die Runden zu kommen?«
    »Nee«, sagte ich im Brustton der Überzeugung.
    »Habt ihr euren Onkel Tinsley in Bezug auf die Arbeit für Mr Maddox angelogen, ja oder nein?«
    »Wir haben nicht direkt gelogen«, sagte ich. »Wir haben bloß beschlossen, es nicht zu erwähnen.«
    »Ihr habt euren Onkel also nicht angelogen, euren Onkel, der euch aufgenommen hatte, der euch ernährte und versorgte. Ihr habt ihn nur getäuscht?«
    »Irgendwie schon.«
    »Du magst euren Onkel Tinsley, was?«
    »Er ist klasse.«
    »Er sorgt für euch, weil eure Mutter nicht für euch gesorgt hat. Deshalb wollt ihr, dass er froh ist, und ihr wollt versuchen, ihm Freude zu machen. Wenn ihr ihn nicht gerade täuscht. Ist das richtig?«
    »Irgendwie schon«, sagte ich wieder. Ich ahnte, dass er mir eine Falle stellen wollte, aber ich konnte nichts dagegen tun.
    »Hat euer Onkel euch je erzählt, dass er Mr Maddox nicht leiden kann?«
    »Da hat er ja auch allen Grund

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