Die Angst der Boesen
immer wieder hatte er es verschoben.
Sein Vater war außerdem oft über Wochen auf Montage, so wie jetzt. Da fiel es leicht zu denken: Wenn ich mir sicher bin und er das nächste Mal richtig Urlaub hat, dann ...
Dann gab es immer wieder Gründe, es nicht zu tun. Einmal hatten seine Eltern Ehekrach gehabt, ein anderes Mal war sein Vater krank gewesen, dann die Zeit zu knapp, die Katze gestorben ...
In den letzten drei Wochen hatten Paul außerdem noch die Nachwirkungen der Abschlussfahrt zu schaffen gemacht. Sein Selbstvertrauen war im Keller.
Also hatte er sich eingeredet, dass er sich ja noch nicht ganz sicher sei. Vielleicht sehnte er sich ja nur nach einem Freund, weil er sich in seiner Klasse so fremd und allein fühlte und außer Lilly niemanden hatte, mit dem er sich unterhalten konnte. Fußball und Fernsehshows interessierten ihn genauso wenig wie Ballerspiele und Boxen. Vielleicht war das ja nur eine Phase, vielleicht würde er in der Oberstufe automatisch Leute finden, mit denen er sich verstand, Jungs, die mehr lasen als die BILD , die Lust hatten, Radtouren zu machen oder einen Kletterkurs. Noch war er sich nicht sicher, ob er schwul war oder einfach nur in die falsche Gesellschaft hineingeboren.
Telefon! Lilly stand auf dem Display. Obwohl er schlecht auf sie zu sprechen war, empfand er ihren Anruf als Rettung. »’tschuldigung, Mama, ich muss drangehen.«
»Aber dann kommst du rüber? Nur für ein halbes Stündchen?«
Er nickte, wartete, bis seine Mutter die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ sich aufs Bett fallen und begrüßte Lilly mit den Worten: »Dass du dich mal meldest ...«
»He, du warst doch knatschig, nur weil ich mich ein paarmal mit Sven unterhalten habe.«
»Er ist ein Kotzbrocken. Wenn’s ihn nicht gäbe ...«
»Was dann?«, fragte sie herausfordernd.
»Würde ich es allen sagen«, entgegnete er heftig.
Sie brummelte etwas. »Okay, aber wenn – nur mal so angenommen – ich Sven dazu bringe, dass er dich in Ruhe lässt, gibt es immer noch die anderen in der Klasse.«
»Die sind mir egal.«
»Bin ich dir auch egal? Momentan hab ich so den Eindruck.«
Er antwortete nicht gleich. Während der Gesprächspause hörte er in Lillys Wohnung permanent das Telefon klingeln. Auch bei sich hörte er Geräusche: Der neue Mieter, den er noch gar nicht zu Gesicht bekommen hatte, war offenbar nach Hause gekommen. Er duschte.
Duschte in der schönen Dachwohnung, die Paul so gern für sich gehabt hätte. Wenn man in der Wanne lag, konnte man durch das Dachflächenfenster die Sterne sehen und beim Frühstück guckte man direkt auf die große Astgabel des Kastanienbaums vorm Haus. Dort brüteten, versteckt im Efeu, jedes Jahr die Amseln.
Diese Wohnung zu besitzen wäre für Paul das Paradies gewesen. Dorthin hätte er Nico eingeladen. Das hätte er gewagt.
»Paul?«
»Nein, du bist mir nicht egal. Aber ich musste mal für mich sein. Die Abschlussfahrt steckt mir noch in den Knochen.«
»Was war denn da eigentlich? Mit mir redet ja keiner drüber.«
Er seufzte. »Komm rüber, dann erzähl ich’s dir. Zumindest den Teil, den ich heute schon einmal erzählt habe.«
»Was? Mir erzählst du keinen Ton und mit irgendwem sonst quatschst du doch?«
Paul merkte, dass er, was diese Sache anging, mit denNerven wirklich am Ende war. Sonst hätte er nie den Arzt vollgeredet. Auch der hatte es gemerkt und sich extra viel Zeit genommen.
»Also komm rüber, aber sag später keinem, was ich dir sage. Und geh zuerst ans Telefon. Bei euch ist jemand in der Leitung.«
»Festnetz«, antwortete Lilly. »Das ist bestimmt für Mama oder Georg. Sollen Leon und Tatjana doch drangehen, aber ich glaub, die wollen nicht. Wir haben nämlich sturmfreie Bude und unser Liebespaar hat Kuschelmusik aufgedreht und das Bitte-nicht-stören-Schild an die Türklinke gehängt. Ich lege schon immer mein Ohr an die Wand, ob ich verdächtige Geräusche höre.«
Paul lachte. »Bis gleich, Lilly.«
»Bin in zehn Minuten da«, flötete sie.
Dann legte sie auf und Paul wartete. Er wartete lange.
24
Ilkay hatte sich gerade etwas ins Spiel eingefunden, als er die Unruhe unter den Zuschauern bemerkte. Sie übertrug sich sofort auf ihn. Der obligatorische Rotkreuzwagen fuhr mit Blaulicht und Sirene vom Platz. Was war da los? Die Jungs auf der Reservebank diskutierten und liefen herum, Levent hatte ununterbrochen sein Handy am Ohr und auch die Fans guckten nicht mehr aufs Spiel.
Als in der achtzigsten Minute
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