Die Angst der Boesen
Paul. Frau Hoffmann hörte es und sahihn irritiert an. Gerade als sie den Faden wieder aufnehmen wollte, wurde sie abgewürgt von Ilkay, der geradezu explodierte. »Willst du Ärger machen oder was?« Er spuckte absichtlich beim Sprechen und trat drohend auf Paul zu. »Du, Klugscheißer, willst du unsern Freund verhöhnen? Hast du keinen Respekt vor Toten?« Leise fügte er hinzu: »Ich frag mich, warum du nicht gesprungen bist, du ... du Nichts.«
Eine ältere Frau, vielleicht Svens Oma, rief: »Im Angedenken an den Verstorbenen nehmen Sie sich bitte zusammen! Nehmen Sie Rücksicht auf die Familie!«
»Das machen wir ja auch«, widersprach Ilkay heftig, »nur der hier nicht.«
»Genau«, rief Cem, »der hat immer schlecht über uns geredet.«
Paul wehrte sich: »Stimmt gar nicht.«
»Paule war eifersüchtig«, sagte Levent grinsend. »Nie nimmt mich mal ’n richtiger Mann ran«, jammerte er dazu mit verstellter hoher Stimme.
Von der Vorstellung fühlten sich alle Jugendlichen bis auf Lilly und Leon erheitert, auch Felix verzog den Mund zu einem Grinsen. Feiger Fettsack, dachte Paul.
Allerdings war er selbst genauso feige gewesen vor drei Wochen. Wie Felix jetzt hatte Paul sich feige gefreut, dass jemand aufgetaucht war, der noch unter ihm stand und die Tritte an seiner Stelle eingesteckt hatte.
Vielleicht deshalb, weil er endlich nicht mehr feige sein wollte und es nicht einsah, sich nach Svens Abgang vor neuen Quälgeistern verstecken zu müssen, sagte Paul jetzt: »Sven hat mich diskriminiert, Ilkay, logisch, das weiß jeder. Du und andere hier tun das ja auch. Aber ich lebe so, wie ich will, ob’s euch passt oder nicht. Ich habe einen Freund, der mich am Wochenende besuchen kommt. Lilly wollte von Sven nichts mehr wissen und du hattest, soweit ichweiß, überhaupt noch nie eine Freundin. Weil an dir nichts Nettes ist. Genauso wenig wie an Sven.«
»Ah«, machte Frau Lange, als bekäme sie einen Herzanfall. Den anderen verschlug es für einen Augenblick die Sprache.
Paul nutzte die Zeit und lief los. Lief quer über das Hofgelände mit aufrechtem Gang und wackeligen Beinen, lief wie im Schock, wartete auf Beschimpfungen, fliegende Steine, Schläge, Schüsse, Stiche, irgendwas, das ihn treffen und niederstrecken würde. Doch nichts kam. Hinter sich hörte er Geschimpfe und Gezeter, Frau Hoffmanns schrille Stimme, das Weinen der Mutter, das große Durcheinander. Von Ilkay hörte er nichts. Offenbar wartete der auf einen besseren Moment, um zurückzuschlagen, wartete auf eine Gelegenheit ohne Zeugen.
Niemand folgte ihm, bis er die Zufahrtsstraße erreichte. Erst da hörte er schnelle Schritte hinter sich. Er fuhr herum.
»Herzlichen Glückwunsch«, keuchte Lilly. »Jetzt wissen ’s alle. Nicht der ideale Moment, aber okay, du bist es endlich los.«
28
Silke Hoffmann hatte ihre liebe Not, die aufgebrachten Schüler zu beruhigen. Ilkay, Levent, Cem, Joel und Tim wollten Paul folgen und sich ihn vornehmen. Sie hielt die Jungs mit ausgebreiteten Armen zurück, sprang hin und her wie eine Verteidigerin im Ballsport, rief: »Nein, nicht jetzt, hört auf damit!«
An den Blicken der Umstehenden merkte sie, dass sie sich lächerlich machte. Von einem Lehrer erwarteten die älteren Leute immer noch, dass er die Schüler mit einem einzigenautoritären Satz in die Schranken wies. Das war ihr nie gelungen. Selbst manche von den Fünftklässlern hörten nicht auf sie. Sie konnte jetzt von Glück sagen, dass ihr Herumgehampel wenigstens einigermaßen Erfolg hatte. Die Jungs blieben, während Paul außer Sichtweite verschwand und Lilly langsam zu ihnen zurücktrottete. Die Wut aber verrauchte nicht und fast alle ihre Rabauken gaben zu verstehen, dass Paul ihnen ja nicht weglaufen könne.
»Übermorgen muss er ja wieder zur Schule kommen«, sagte Ilkay, »und dann werden wir sehen, ob der Feigling Sven immer noch beleidigen will.«
»Der ist echt schwul, ey.« Cem ballte die Fäuste. »Haben wir uns doch schon immer gedacht.«
Tim spuckte auf den Boden und selbst der sonst so ängstliche und brave Felix rief laut: »Die Schwanzlutscher glauben auch, sie könnten sich alles erlauben.«
Mit seinem Bekenntnis zur Homosexualität hatte Paul in ein Wespennest gestochen. Zwar schoben die wütenden Jungen vor, es ginge ihnen vor allem um den verstorbenen Sven, aber Silke wusste, worüber sie sich in Wahrheit aufregten. Dass Sven kein wirklich netter Mensch gewesen war, war ja schließlich kein Geheimnis. Sie selbst
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