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Die Angst der Boesen

Die Angst der Boesen

Titel: Die Angst der Boesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristina Dunker
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Geburtstag schenken wollte, und war damit zu ihrem Haus gefahren. Bestimmt zwei Stunden hatte er davor auf den ummauerten Mülltonnen gesessen und auf ihre Rückkehr von der S-Bahn-Haltestelle gewartet. Auch dorthin zu gehen hätte er nicht fertiggebracht. Besser war es, zu warten und die heimliche Erleichterung durch den ganzen Körper sickern zu lassen, sich die Möglichkeiten auszumalen, die ihm jetzt offenstanden. Er konnte sich freier bewegen, vielleicht Leon einweihen und sogar Nico einladen.
    Paul ertappte sich sogar bei dem Wunsch, Sven wäre früher in den Tod gegangen, vor der Abschlussfahrt. Es kam ihm vor, als hätte der Mitschüler ihn vorher noch beschmutzt, ihm seine Unschuld genommen, ihn gegen seinen Willen zu seinesgleichen, zu einem bösen Menschen gemacht. Gestern Nacht hatte er es ganz pathetisch gesehen: Der Teufel hatte ihn gezeichnet.
    Aber hatte er sich nicht auch zeichnen lassen?
    Paul schob die unangenehmen Gedanken beiseite.
    Er grüßte Leon jetzt mit einem wortlosen Handschlag, trat dann etwas schüchtern zu Lilly und legte ihr von hinten die Hände um die Schultern. »Hey, Krokodilly.«
    »Ach, Paule.« Sie drehte sich weg von den Blumen, Fotos, Kerzen und Kuscheltieren – Kuscheltiere für Sven Lange, die Krönung des Irrsinns! – und lehnte sich in seine Arme. Noch immer sah sie verheult aus.
    »So schlimm?«
    »Was denkst du denn? Glaubst du, das vergisst man am nächsten Morgen? Das bleibt eine Narbe fürs Leben.«
    »Na, übertreib mal nicht.«
    Sie stieß ihn von sich. »Ich hab Svenni geliebt«, rief sie laut.
    Sofort hatten sie Publikum. Jeder der umstehenden Schüler wusste, dass Sven Paul am meisten von allen zugesetzt hatte.
    »Ja, das weiß ich doch.« Paul wurde rot, als er sah, wie neugierige Blicke ihn trafen. Hier wartete jeder nur auf einen Skandal, eine neue wunderbar schockierende Nachricht. Wie wär’s mit: Schwuler Außenseiter verhöhnt Toten ? So könnte das morgen in der Zeitung stehen. Er sollte sich besser ruhig verhalten.
    »Und ich weiß natürlich, dass Sven kein Heiliger war«, sagte Lilly – satte Untertreibung, dachte Paul –, »aber auch wenn er dich und einige andere hier gemein gequält hat, war er trotzdem ein Mensch. Du hast kein Recht ...«
    Frau Hoffmann unterbrach sie mit einem lauten Räuspern und einem kurzen Griff an den Arm.
    »Lilly, es ist gut, was du sagst, aber ich möchte jetzt einen Moment um Ruhe bitten. Herr Lange wird ein paar Worte sagen.«
    Svens Vater war jünger, als Paul gedacht hatte. Sein Gesicht war rot, die Augen dick verquollen, der Mund stand offen, die Hände rangen miteinander, Blutdruck mindestens 240.
    »Stellen Sie sich mal so, dass ich die Geschenke für Ihren toten Sohn auch mit drauf habe, Herr Lange«, befahl der Reporter und brachte professionell seine Kamera in Stellung.
    »Lassen Sie ihn erst mal anfangen«, bat die Hoffmann pädagogisch.
    »Ja«, brachte Svens Vater schwer atmend hervor, »ja, also ich, ja, ich will für meinen Sohn eine Rede halten.«
    Wie er so hilflos dastand, tat er Paul leid. Svens Vater kriegte nämlich keinen sinnvollen Satz auf die Reihe. Er machte nur den Mund auf und zu wie ein erstickender Fisch, sagte: »Ich« und »Sven ist ... oder Sven war, er war ...«, und fing an zu heulen. Während er so im Mittelpunkt stand, drehte er immer wieder zwischen den Fingern ein kleines Ding hin und her, das Frau Hoffmann ihm schließlich abnahm.
    »Sven«, sagte sie gefasst, »war ein besonderer Junge. Seine Eltern hatten ihn sehr lieb. Dies« – sie hielt einen bunten Anhänger für eine Halskette in die Höhe – »ist der Glücksbringer, den Svens Vater Svens Mutter geschenkt hat, als sie vor siebzehn Jahren erfahren hatte, dass sie schwanger war. Die Kette hat nicht lange gehalten, aber den Anhänger hat sie immer aufgehoben, bis heute.«
    Frau Lange begann dramatisch zu schluchzen, Frau Hoffmann hob die Stimme. »Wir können alle nicht nachvollziehen, warum Sven seinem Leben offenbar freiwillig ein Ende gesetzt hat. Trotzdem hat es Anzeichen gegeben, dass er vielleicht unglücklich war. Sein manchmal aggressives Verhalten könnte Ausdruck einer unerkannten Depression gewesen sein. Sein Vater sagt, dass er ein Erfolg versprechendes Vorstellungsgespräch nicht antrat, und seine Freunde haben bemerkt, dass Sven in letzter Zeit sehr nachdenklich war. Vielleicht hat ihm das Ende der Schulzeit Angst gemacht.«
    »Das ist ja lächerlich. Sven hat anderen Leuten Angst gemacht«, entfuhr es

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