Die Ankunft
Bächlein kam aus dem moosigen Grund und sprudelte einen kleinen Abhang hinunter. Ein grasiger Streifen ging dort in einen kleinen, klaren Teich über. Dicke grüne Seerosenblätter schwammen auf der ruhigen Oberfläche. Frösche quakten, und über dem glitzernden Wasser schwirrte eine Libelle.
"Wunderschön", sagte Sibil atemlos.
"Nicht wahr?"
Marcus streckte sich im Gras aus. Etwas schüchtern setzte Sibil sich neben ihn.
"Wir Wandler... wir bleiben unter uns, oder?", fragte Sibil. "Die anderen wissen ja nicht, dass es uns gibt. Und wir dürfen uns nicht verraten."
"Auf jeden Fall nicht, so lange sie alle auf den Scheiterhaufen stellen, die auch nur ein wenig anders sind. Aber ja. Wir bleiben unter uns oder verheimlichen unsere Natur."
"Das heißt, Wandler heiraten nur andere Wandler und bekommen mit ihnen Kinder?"
"Sie heiraten untereinander, wenn sie das möchten. Aber Kinder können wir keine bekommen. Die einzige Art der Fortpflanzung, die uns bleibt, ist der Biss - und den dürfen wir Wandler nicht anwenden, wenn wir nicht zu Werwölfen werden wollen."
Sie konnte also keine Kinder bekommen. Sibil versuchte noch, herauszufinden, ob diese Neuigkeit schlimm für sie war, doch sie musste die ganze Zeit an Marcus' Körper denken. An seine Brust, auf die sie manchmal einen Blick erhaschen konnte, wenn er sein Hemd offenstehen ließ. Er hatte zarte blonde Haare auf der Brust, die in der Sonne schimmerten. An seine langen, kräftigen Beine. An seinen schmalen Hintern, den sie manchmal in den engen Hosen bewundern konnte.
Sie begehrte ihn, und das war ganz neu. Sie hatte zuvor nur Raffaelus begehrt, als er schon über ihr gewesen war, ein großer, schwerer Mann mit einer wilden, lebendigen Aura. Bei Marcus zu liegen musste ganz anders sein. Er wäre leichter, würde anders riechen, und er würde sie nicht in Besitz nehmen wie sein Eigentum. Ob er schon jemals bei einer Frau gelegen hatte?
Sie war erstaunt, wie schnell ihr Begehren wuchs. Ohne nachzudenken, beugte sie sich über ihn und küsste seine Lippen. Er nahm sie bei den Schultern, behielt seinen Mund auf ihrem und öffnete ihre Lippen mit seiner Zungenspitze. Für einen Augenblick erschrak Sibil, doch das Gefühl, das sich in ihrem Körper ausbreitete, war wunderschön, und sie erwiderte den Kuss.
Sie lagen am Teich, flüsterten und küssten sich, bis die Sonne untergegangen war und Rosa kam, um nach ihnen zu suchen.
Am nächsten Morgen wachte Sibil mit einer nagenden Übelkeit auf. Sie kroch von der Schlafstatt, stürzte ins Freie und übergab sich, bis quälende Krämpfe ihren Magen zu einem kleinen Ball zusammengepresst hatten. Als sie sich mit tränenden Augen aufrichtete, war Imagina bei ihr und reichte ihr ein Tuch.
"Bist du krank?"
"Ich weiß nicht", stöhnte Sibil. "Mir ist schlecht. Gestern früh auch schon, aber es ging im Laufe des Vormittages wieder weg."
"Wir werden das beobachten", sagte Imagina und musterte Sibil mit prüfendem Blick.
"Ist das schlimm?", fragte Sibil besorgt. "Hat es etwas mit der Verwandlung zu tun?"
"Nein, Liebes. Mach dir keine Sorgen."
Nach dem Frühstück hatte Sibil sich soweit erholt, dass sie ihren Pflichten im Garten und in den Stallungen nachgehen konnte. Sie jätete Unkraut, fütterte die Hühner und molk die Ziegen. Draußen, in der wirklichen Welt, musste der Winter vollends Einzug gehalten haben, doch sie hatte sich noch nicht weit genug von Imaginas Haus entfernt, um aus dem Bannkreis zu gelangen. Sie plante es auch nicht. Sie fürchtete sich vor Raffaelus und seinem Rudel ebenso wie vor Hexenjägern oder Wegelagerern. Also blieb sie, wo sie war, und Imagina schickte sie auch nicht fort.
Gegen Nachmittag war sie mit ihren Unterrichtsstunden und der Arbeit fertig und sah sich nach Marcus um, doch dieser war auf dem Hof nirgends zu entdecken. Auch die Zweige des Kirschbaumes waren leer, und so machte Sibil sich auf den Weg zum Teich.
Sie bemerkte noch auf dem Pfad, dass jemand vor ihr da war. Jemand, der im Wasser herumprustete und plantschte.
Sie näherte sich im Schutz der Bäume und spähte zum Wasser.
Es war Marcus. Seine Kleider lagen in einem unordentlichen Haufen am Ufer. Er schwamm ein paar Züge, kam dann in die Höhe und wischte sich Wasser aus dem Gesicht.
Ihr Atem ging schneller, als sie ihn ansah. Er war völlig nackt. Seine Haut war weiß, Wassertropfen glitzerten auf ihr. Sie betrachtete seine muskulösen Schultern, die glatte Brust, den flachen Bauch.
Ihr Herz schlug. Sie
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