Die Ankunft
Anna bereits ein ausgiebiges Bad genommen. Nun kämmte Rosa ihr das Haar, das ihr blond und üppig über den Rücken fiel, und flocht bunte Bänder und Blüten hinein. Sie tupfte ein wenig rote Farbe auf ihre Fingerspitze und färbte damit Annas Lippen. Anna ließ sich die Behandlung gerne gefallen. Schließlich legte sie ihre Alltagskleidung ab und schlüpfte in ihr Festgewand. Imagina hatte sie angewiesen, darunter nackt zu bleiben, damit ihr die Verwandlung später leichter fiele. Der Wind schlüpfte unter das leichte Gewand und streichelte Annas Körper. Eine Mischung aus Befangenheit und Erregung erfüllte sie. Der leichte Stoff gab ihr nicht das Gefühl, bekleidet zu sein.
Schließlich betrat sie den Gemeinschaftsraum im Haupthaus, wo alle sich versammelt hatten, um auf sie zu warten. Als sie durch die Tür trat, verstummten die Gespräche. In den Augen der Männer erkannte Anna, dass sie sie nicht mehr als Kind ansahen. Sie bewunderten eine junge und begehrenswerte Frau.
Tamus sprach als erster.
„Du bist wunderschön, Anna. Bist du denn auch bereit?“
„Ich glaube schon.“
„Man kann nie wirklich bereit sein“, sagte Rosa. „Aber wir helfen dir. Wir passen auf dich auf und beschützen dich, wenn du zum ersten Mal deine Wölfin rufst.“
„Viel Schutz wird nicht nötig sein“, winkte Anna ab. „Die Gegend ist ruhig. Seit Raffaelus sich mit seinem Rudel ein anderes Revier gesucht hat, hatten wir keine Zusammenstöße mit Werwölfen mehr.“
„Trotzdem werden wir nicht leichtsinnig sein“, sagte Tamus. „Wir wissen nicht, ob Marcus noch beim Rudel ist. Und die Ankunft eines neuen Wolfes lässt sich weithin spüren.“
„Doch nun wollen wir uns die Laune nicht mit düsteren Gedanken trüben“, warf Rosa ein. „Lasst uns einen großartigen Abend haben! Die kleine Anna wird erwachsen. Sie hat ein rauschendes Fest verdient.“
„Es ist Zeit“, sagte Imagina. „Wir haben noch einen Weg zurückzulegen.“
Gemeinsam brachen sie auf. Wie eine stumme, feierliche Prozession bewegten sie sich durch den Wald, leise auf nackten Füßen, in wallende Roben gewandet, Imagina mit ihren flammend roten Haaren voraus. Während sie gingen, sang Imagina in der alten Sprache eine getragene Melodie. Die Schatten flossen unter den Bäumen zusammen, und wie von selbst öffneten sich die Zweige vor ihnen.
Anna hätte nicht gedacht, dass es einen Winkel in diesem Wald gab, den sie noch nicht kannte, doch nach kurzer Zeit hatte sie völlig die Orientierung verloren. Der Wald schien hier viel älter zu sein. Dick bemooste Steine ruhten zwischen gewaltigen Bäumen, deren Stämme drei Männer gemeinsam nicht hätten umspannen können. Flechten hingen von den Zweigen wie lange, wunderliche Bärte. Das Licht der untergehenden Sonne blinzelte in dünnen, grüngoldenen Strahlen zu ihnen hinunter. Annas Füße sanken tief in einen weichen Moosteppich. Selbst die Vögel schienen besonders andächtige Lieder zu pfeifen.
Nach einem längeren Weg teilten sich die Bäume und gaben den Blick auf eine glitzernde Wasserfläche frei.
„Der Mondlichtsee“, flüsterte Rosa.
Still wie ein Spiegel lag der See zwischen den Bäumen. In seiner Mitte erhob sich eine kleine, bewachsene Insel. Anna konnte hohe Steine erkennen, die in den Himmel ragten wie ein zahnlückiges Gebiss.
Zielstrebig schritt Imagina in das Wasser. Es plätscherte kaum. Träge breiteten sich Wellenringe auf der silbrigen Oberfläche aus, als sie begann, mit kräftigen Zügen zur Insel hinüberzuschwimmen. Die anderen folgten. Annas Gewand bauschte sich, als sie ins Wasser watete. Es war kalt, und sie unterdrückte einen Schreckenslaut. Sie hielt den Atem an und tauchte unter.
Die Sonne war untergegangen, als sie alle auf der Insel ankamen und den Steinkreis betraten. Das Gewand klebte an Annas Körper, und sie sah, wie Tamus und Mattis sie musterten. Erstaunt stellte sie fest, welche Wirkung sie auf die Männer hatte.
Die Gemeinschaft bildete einen Kreis inmitten der Steine. Anna nahmen sie in die Mitte. Dann fassten alle sich an den Händen und stimmten in Imaginas ruhige Weise ein.
„Vitalis de geliamo
Del tusra il luna de glarios
Dein Blut schwimmt im Mondlicht
Gefangen und vereint
Leben soll es bringen
Die Gestalt in dir soll sein.“
Wärme schlug Anna entgegen. Zuerst dachte sie an einen warmen Nachtwind, aber tatsächlich ging die Wärme von den Personen im Kreis aus. Das kalte Frösteln verschwand von Annas Haut. Sie löste die Arme, die
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