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Die Ankunft

Die Ankunft

Titel: Die Ankunft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Piel
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sechzehnten Geburtstag, konnte sich nicht vorstellen, wie es sein musste, so alt zu sein.
    Über den Besuch von Rosa und Mattis freute sie sich am meisten. Die beiden lebten längst ihr eigenes Leben, Rosa als Hebamme, Mattis als Schneider, doch sie hatten den Kontakt zu Imagina und ihrem Haus nie ganz aufgegeben. Rosa, die Anna durch ihre ersten Lebensjahre begleitet hatte, war ihr lieb wie eine große Schwester, und mit Mattis verband sie frühe Kindheitserinnerungen: Er hatte sie auf den Schultern mit zu seinen Ziegen genommen, und sie hatte von oben auf die großen, gehörnten Tiere mit den eigentümlichen hellen Augen hinuntergesehen und vor Aufregung gejauchzt.
    Und nun war der Tag gekommen. Wenn er in die Nacht überging, würde Anna ihre erste Verwandlung erleben. Imagina hatte sie sorgfältig vorbereitet und ihr beschrieben, was passieren würde: die Wölfin würde von innen hervortreten und den menschlichen Körper abstreifen, sich herausschälen wie ein Schmetterling aus seinem Kokon. Danach würde sie zum ersten Mal das erfahren, was sie unterdrückt bereits spürte: die Kraft des Tieres, seine geschärften Sinne. Sie würde die Nacht hören, riechen, erleben wie noch nie zuvor.
    Jetzt, da das Ereignis direkt bevorstand, wusste sie nicht, ob sie sich freuen oder fürchten sollte.
    Sie war mehr als bereit, die Wölfin zu empfangen, und genoss den Trubel, der um ihre Person veranstaltet wurde. Aber der Abschied von Imagina, der am Ende der Nacht bevorstand, machte ihr zu schaffen. Ab diesem Zeitpunkt würde sie nur noch zu Besuch kommen, wie Rosa und Mattis. Ihren Platz in der Gemeinschaft würde ein anderer Wandler einnehmen, der Imaginas Unterstützung benötigte.
    Anna hatte keine Pläne für ihr neues Leben. Ihre Vorstellungen von dem, was sie erwartete, waren mehr als ungenau. Sie konnte im Wald überleben, kannte jedes Kraut und jeden Stein. Von Dörfern und Städten hatte Imagina sie ferngehalten. Bei einigen Bauernhöfen in der Nähe hatte die Gemeinschaft sich nicht nur mit den Lebensmitteln versorgt, die sie nicht selbst anbauten, sondern auch mit Geschichten aus den umliegenden Dörfern und Städten. Aus dieser Quelle wusste Anna, dass die Menschen Berufen nachgingen, für Frauen aber die meisten nicht zur Wahl standen. Viele Frauen heirateten und sicherten so ihr Auskommen. Rosa hatte ihr geraten, das zu tun. Es funktionierte zumindest so lange, bis auffällig wurde, dass Kinder ausblieben. Für diese Zeiten hatte Rosa ihren Beruf, mit dem sie sich ernähren konnte.
    Heiraten? Das, was zwischen Mann und Frau passierte, war Anna nicht ganz klar. Imagina hatte ihr in ausführlichen Gesprächen die Prinzipien der menschlichen Liebe und Lust erklärt, aber Anna hatte noch nie einen Mann getroffen, auf den sie das Gehörte hätte anwenden wollen. Vielleicht passierte das in der Welt da draußen. Der Gedanke faszinierte sie und tröstete sie ein wenig über den bevorstehenden Verlust ihrer Heimat hinweg.
    Imagina hatte ihr ein Festkleid genäht. Es war weiß und mit Runen über und über bestickt – Schutz- und Stärkerunen, so hatte Imagina ihr erklärt. Als Anna Imagina suchte, um sie zu fragen, ob sie sich schon umziehen sollte, fand sie sie weinend unter dem Kirschbaum.
    „Was ist los?“, fragte sie erschrocken.
    Imagina knüllte ihren Schürzenzipfel zusammen und lächelte unter Tränen.
    „Es ist nichts, Kind. Mach dir keine Sorgen. Nur... noch nie ist ein junger Wandler so lange bei mir geblieben wie du. Die anderen kamen als Halbwüchsige oder Erwachsene, die Gewalt und Schrecken erfahren hatte. Einzig du warst so unschuldig. So rein. Du wirst mir so fehlen. Mit mir hast du laufen gelernt, und sprechen... und widersprechen...“
    Anna lächelte.
    „Ich bin ein echter Sturkopf, oder?“
    „Ja, aber das ist gut so. Du wirst dich in deinem Leben immer wieder durchsetzen müssen. Es ist gut, dass du das kannst. Und ich... man sieht es mir nicht an, aber ich werde alt. Alt und sentimental...“
    „Ich hab dich lieb, Ima.“
    Anna schlang ihre Arme um ihre Ziehmutter, und diese drückte sie fest an sich.
    „Versprich mir, dass du mich besuchen kommst.“
    „Natürlich komme ich. Oft. Ich würde dich sonst auch viel zu sehr vermissen.“
    Eine Weile standen sie eng umschlungen beieinander, dann machte Imagina sich los und lächelte. Anna sah, wie schwer ihr das fiel.
    „Nun komm, Kleine. Die Sonne geht bald unter. Machen wir dich schön, und dann brechen wir auf.“
    Früher am Tag hatte

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