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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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ein Muskelrelaxanz benötige, damit mein Gesicht nicht zu einer ewigen Kinderschreck-Maske erstarrt. Dieser ganze Cocktail also brodelt mir wohl oder übel durch die Adern, und während er mit seinem beruhigenden Einfluss zu den verantwortungslosen Impulsen eilt, die wie eine aufsässige Teenie-Bande in meinem Hirn herumtollt, greift er unterwegs auch eine Reihe Organe an, die keine Ahnung haben, was das Ganze soll. Manchmal habe ich das Gefühl, dass meine Phantasie einem unberechenbaren Dominostein gleicht, der plötzlich aus dem Gleichgewicht kommt, erst hin und her schwankt und dann gegen all die anderen Kräfte in meinem Körper kippt, so dass er eine groß angelege Kettenreaktion auslöst, bei der die Steine in meinem Innern willkürlich, klick klick klick alle übereinander purzeln.
    Da war es doch entschieden einfacher, als ich noch ein junger Mann war und nichts weiter zu tun hatte, als auf meine Stimmen zu hören. Meistens waren sie auch gar nicht mal so schlimm. Gewöhnlich waren sie schwach, wie ein verhallendes Echo über einem Tal oder auch wie Getuschel zwischen Kindern, die sich in einer Ecke des Spielzimmers Geheimnisse zuflüstern, auch wenn sie, sobald es einmal gefährlich wurde, sich laut Gehör verschafften. Und meistens waren meine Stimmen nicht allzu fordernd. Sie machten Vorschläge, erteilten Rat, stellten unbequeme Fragen. Gelegentlich neigten sie ein bisschen zur Nörgelei wie eine altjüngferliche Großtante, mit der bei einem Festschmaus niemand so recht etwas anfangen kann und die zwar in die Feier einbezogen wird und durch die eine oder andere unsinnige oder politisch unkorrekte Bemerkung aus der Rolle fällt, ansonsten aber weitgehend unbeachtet bleibt.
    Irgendwie leisteten die Stimmen mir Gesellschaft, besonders dann, wenn ich keine Freunde hatte.
    Ich hatte sogar zwei Freunde, und sie gehören zu der Geschichte. Ich dachte einmal, sie wären sogar der entscheidende Teil der Geschichte, doch da bin ich mir nicht mehr so sicher.
    Nun hatte es einige der anderen Leute, denen ich in jenen, meiner Ansicht nach richtig verrückten Jahren begegnete, weitaus schlimmer erwischt als mich. Ihre Stimmen schleuderten ihnen Befehle entgegen wie diese Ausbilder bei den Marines, die Kerle mit diesen dunkelbraungrünen, breitkrempigen Hüten, die sie tief in die Stirn gezogen haben, so dass ihr kahl geschorener Schädel von hinten zu sehen ist. Schritt marsch! Antreten! Abtreten!
    Oder schlimmer: Bring dich um.
    Oder noch schlimmer: Bring jemand anderen um.
    Die Stimmen, die diese Leute anbrüllten, kamen von Gott oder Jesus oder Mohammed oder vom Nachbarshund oder ihrem längst verstorbenen Großonkel, vielleicht auch von Außerirdischen; zuweilen waren sie ein Chor aus Erzengeln oder Dämonen. Diese Stimmen waren hartnäckig und fordernd und nicht im Mindesten kompromissbereit, und ich wurde nach und nach ziemlich geübt darin, anhand der Anspannung, die diesen Leuten ins Gesicht geschrieben stand, und der Verkrampfung ihrer Muskeln zu erkennen, dass sie etwas ziemlich laut hörten und dass dies selten Gutes versprach. In solchen Momenten verdrückte ich mich einfach und wartete beim Eingang oder am anderen Ende des Tagesraums, weil jeden Moment etwas Verhängnisvolles passieren könnte. Es war ein bisschen so wie ein albernes Detail, das ich mir aus der Grundschulzeit eingeprägt hatte, eins von diesen seltsamen Fakten, die irgendwie haften bleiben: Bei einem Erdbeben bietet eine Türöffnung den besten Schutz, weil die Laibung über der Öffnung statisch stabiler ist als eine Wand und einem daher mit geringerer Wahrscheinlichkeit über dem Kopf zusammenbricht. Wenn ich also sah, dass bei einem Mitpatienten die Turbulenzen immer heftiger wurden und eine Eruption zu erwarten war, suchte ich den Türrahmen auf, wo ich die besten Überlebenschancen hatte. Und war ich erst einmal da, konnte ich auf meine eigenen Stimmen hören, die im Allgemeinen auf mich aufzupassen schienen und mich nicht selten warnten, mich schleunigst auf die Socken zu machen und zu verstecken. Sie hatten seltsamerweise einen ausgeprägten Selbstschutzinstinkt, und wäre ich nicht, als sie sich in jungen Jahren zu mir gesellten, so dumm gewesen, ihnen laut vernehmlich zu antworten, hätte es vermutlich nie eine Diagnose gegeben und ich wäre vermutlich gar nicht erst eingewiesen worden. Doch das ist Teil der Geschichte, wenn auch wahrlich nicht der rühmlichste Teil. Gleichwohl vermisse ich sie auf eigentümliche Weise, denn

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