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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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mich dann auf einen wackeligen Stuhl in der Zimmerecke, um die Frage, die sich mir stellte, zu erwägen. Ich wusste, dass es Leute gab, die keine Wiedersehensveranstaltung ausließen. Pearl-Harbor- und D-Day-Veteranen treffen sich. Highschool-Klassenkameraden tauchen nach ein, zwei Jahrzehnten wieder auf, um auseinander gehende Taillenumfänge, fortschreitende Glatzen oder Hängebrüste zu taxieren. Colleges nutzen Ehemaligen-Treffen, um aus Absolventen, die mit tränenfeuchten Augen durch die alten efeubewachsenen Hallen schreiten und sich dabei nur die guten Momente ins Gedächtnis rufen, während sie die schlechten lieber vergessen, großzügige Spenden herauszuquetschen. Solche Treffen sind ein fester Bestandteil der normalen Welt. Die Leute versuchen ständig, Erinnerungen aufzufrischen, die das Gewesene verklären, und Emotionen neu zu entfachen, die sie entschieden besser ruhen lassen sollten.
    Ich nicht. Zu den Begleiterscheinungen meines Geisteszustands gehört es, dass ich mich mit Fleiß dem widme, was vor mir liegt. Die Vergangenheit ist ein Selbstläufer aus tückischen und schmerzlichen Erinnerungen. Wieso sollte ich die Zeit zurückdrehen wollen?
    Und dennoch zögerte ich. Ich ertappte mich dabei, wie ich die Einladung mit einer Faszination betrachtete, die in mir aufzublühen schien. Obwohl es zum Western State Hospital nur eine Fahrtstunde war, hatte ich dem alten Gemäuer in all den Jahren seit meiner Entlassung keinen einzigen Besuch abgestattet. Und ich bezweifelte sehr, dass irgendjemand, der auch nur eine Minute hinter jenen Türen zugebracht hatte, dazu Lust verspürte.
    Ich schaute auf meine Hand und sah, dass sie ein wenig zitterte. Vielleicht ließ die Wirkung meiner Medikamente nach. Wieder sagte ich mir, dass der Brief am besten in den Papierkorb und ich selbst quer durch die Stadt wandern sollte. Das hier war eine bedrohliche Angelegenheit. Eine beunruhigende Sache, denn sie gefährdete diese so mühsam zusammengesetzte Existenz. Lauf schnell, sagte ich mir. Schreite deine übliche Strecke ab, denn darin liegt deine Rettung. Lass das andere hinter dir. Ich war schon drauf und dran, genau das zu tun, doch etwas hielt mich zurück.
    Ich griff nach dem Telefon und tippte die Nummer der Vorsitzenden ein. Ich wartete zwei Klingeltöne lang, dann meldete sich eine Stimme: »Hallo?«
    »Mrs. Robinson-Smythe bitte«, sagte ich ein wenig zu kurz angebunden.
    »Die Sekretärin am Apparat. Mit wem spreche ich bitte?«
    »Mein Name ist Francis Xavier Petrel …«
    »Ah, Mr. Petrel, Sie rufen sicher wegen des Western-State-Tags an …«
    »Richtig«, sagte ich. »Ich werde kommen.«
    »Das ist großartig. Dann stelle ich Sie jetzt zu Mrs. …«
    Doch über meinen impulsiven Entschluss fast erschrocken, legte ich auf. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, war ich schon zur Tür hinaus und lief, so schnell ich konnte, davon. Und wie ich Meter um Meter Betonbürgersteig und Teersplittstraße hinter mich brachte und die Ladenfronten und Häuser meiner Stadt achtlos passierte, fragte ich mich, ob meine Stimmen mir geraten hätten zu gehen. Oder nicht.
     
    Selbst für Ende Mai war es ein ungewöhnlich heißer Tag. Ich musste dreimal den Bus wechseln, bevor ich die Stadt erreichte, und jedes Mal schien die Mischung aus heißer Luft und Dieselabgasen schlimmer zu werden und mehr zu stinken, schien die Luftfeuchtigkeit höher zu sein. An jeder Haltestelle sagte ich mir, dass es vollkommen falsch war, zurückzugehen, weigerte mich aber doch, auf meinen eigenen Rat zu hören und umzukehren.
    Die Klinik lag in den Randbezirken einer typischen kleinen Universitätsstadt in Neu-England, die sich etwa gleich vieler Buchläden, Pizzerien, chinesischer Restaurants und billiger Kleidergeschäfte mit einem Hang zum Militärischen rühmen konnte. Ein Teil der Geschäfte allerdings strahlte eine bilderstürmerische Aufsässigkeit aus – wie etwa der Buchladen, der sich auf Wälzer zu Selbsthilfe und Spiritualität spezialisiert hatte und dessen Verkäufer hinter der Theke den Eindruck machte, als hätte er jedes Buch auf den Regalen gelesen, doch keines gefunden, das half; oder die Sushi-Bar, die ein bisschen schmuddelig wirkte und wo der Kerl, der den rohen Fisch zurechtschnitt, mit hoher Wahrscheinlichkeit Tex oder Paddy hieß und mit breitem Südstaatenakzent sprach. Die gestaute Wärme schien aus dem Bürgersteig unter meinen Füßen aufzusteigen, Abstrahlhitze wie bei einer Heizspirale im Winter, die nur eine

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